: Petra Grill, Ulrike Schweikert
: Die Charité: Neue Wege Historischer Roman
: Rowohlt Verlag Gmbh
: 9783644012783
: Die Charité-Reihe
: 1
: CHF 10.00
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 480
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Die Bestsellerreihe geht endlich weiter! Die Charité - das berühmteste Krankenhaus Deutschlands auf neuen Wegen. Geschichten von Leben und Tod, von Liebe und Verrat. Berlin, 1858. Das Hausmädchen Sophie wird unehrenhaft entlassen und steht vor dem Nichts. Der Sohn der Familie hat sich in Sophie verliebt, doch die Schuld gibt man ihr. Sophie bleibt nur, es ihrer Kindheitsfreundin Bertha gleichzutun und das Geld zum Überleben auf der Straße zu verdienen. Als Bertha und Sophie sich eine der grassierenden Geschlechtskrankheiten einfangen, bringt man sie in die Charité. Statt dort Hilfe zu bekommen, werden die beiden Frauen jedoch unwissentlich Teil eines grausamen Experiments. Bertha erkrankt schwer, und Sophie sorgt aufopferungsvoll für ihre Freundin. Das bleibt auch der Oberschwester nicht verborgen, und Sophie bekommt die Chance, als Pflegerin an der Charité anzufangen. Doch die Angst von ihrer Vergangenheit eingeholt zu werden, liegt wie ein Schatten über Sophie. Vor allem als sie sich in einen jungen Offizier verliebt.

Petra Grill ist ausgebildete Buchhändlerin. Gleich ihr erster Roman «Oktoberfest 1900» schaffte es auf die Bestsellerliste. Sie lebt und arbeitet in Erding.

Kapitel 1Monbijouplatz


18. Januar 1858

«Ich verstehe nicht», stotterte Sophie.

Frau von Seydlitz’ Stimme zischte vor Wut. «Du verstehst nicht? Du verstehst nicht, wenn eine Mutter sich darüber empört, wie ihr unschuldiger Sohn verführt und auf Abwege geleitet wird? Oder verstehst du nicht, wieso ich davon weiß? Hattest du angenommen, wir seien alle blind und taub und niemand würde bemerken, dass Philipp sich seit Wochen heimlich nachts in deine Kammer schleicht?»

«Aber so war es doch …»

«Und ob es so war! Die ganze Zeit über, seit wir dich ins Haus genommen haben, haben wir eine Schlange an unserem Busen genährt! Du hast meinen einzigen Sohn nicht nur vom Pfad der Tugend abgebracht – du hast dir in den Kopf gesetzt, ihn zu verderben! Das hätte dir so gepasst, wie? Den Sohn deines Dienstherrn in dich verliebt zu machen und ihm so sehr den Kopf zu verdrehen, dass Philipp allen Ernstes davon spricht, dich heiraten zu wollen! Dich, ein Dienstmädchen! Das wäre freilich ein feiner Aufstieg für eine wie dich!»

«Gnädige Frau, das stimmt nicht!» Zu Beginn der Strafpredigt war Sophie zu schockiert gewesen, um sich zu wehren. Ein Teil von ihr wäre am liebsten in Tränen ausgebrochen. Aber je länger Frau von Seydlitz sprach, desto mehr war Sophie entrüstet über die Ungerechtigkeit. Es kostete sie Mühe, ruhig zu bleiben. «Ich habe Philipp nie auf solche Gedanken gebracht, im Gegenteil, ich habe ihm gesagt, dass das unmöglich ist. Dass Sie mir vorwerfen, Ihr Vertrauen missbraucht zu haben, ist nicht gerecht.»

Ein langer, hoheitsvoller Blick glitt an Sophie entlang. Adelheid von Seydlitz war sicher schon um die fünfundvierzig. Eine Schönheit war sie wohl nie gewesen, doch sie war groß, deutlich größer als ihr zierliches Dienstmädchen. Vor allem konnte sie eine eisige Kälte und Herablassung an den Tag legen und verstand damit, wie Sophie wusste, sogar Sohn und Ehemann einzuschüchtern.

Im Augenblick schien sie einzulenken. Sie trat ans Fenster und strich in Gedanken mit der Hand über die samtenen Vorhänge. «Sei dem, wie es sei. Bis zu einem gewissen Grad habe ich ja Verständnis. Du bist selbst noch ein halbes Kind; wahrscheinlich lässt du dir heimlich Groschenromane an der Hintertür verkaufen, so wie alle Dienstmädchen. Es ist eine Schande, dass solche Lektüre uns das Personal verdirbt. In jedem dieser Heftchen heiraten Grafen und Fürstensöhne simple Bauernmädchen. Wer wollte einem einfältigen Geschöpf verdenken, wenn es anfängt zu glauben, so etwas sei wirklich möglich.» Frau von Seydlitz drehte sich abrupt wieder zu Sophie um. «Aber dies ist das echte Leben, Kind. Du musst einsehen, dass ich dich unmöglich länger im Dienst behalten kann.»

Sophie erstarrte. «Sie … Sie wollen mich entlassen?»

Sie war beinahe zu fassungslos, um verärgert zu sein. Nach all den Jahren, die sie im Haus der Familie Seydlitz gearbeitet hatte – das? Dann meldete sich urplötzlich die Angst. Was sollte sie tun, wenn sie ihre Stelle verlor? Sie hatte niemanden mehr, zu dem sie hätte gehen können. Ihre Mutter war gestorben, als Sophie noch klein war. Ihren Vater, einen wohlhabenden Herrn aus Potsdam, hatte sie nie gekannt. Er hatte Sophies Mutter geschwängert, mehr oder minder regelmäßig seine Alimente bezahlt und seine Vaterpflichten insofe