JAN STEINBACH
Weihnachten in Ostfriesland
Der Schrei einer Möwe drang durch die kalte, klare Luft. Die Schiffe waren winterfest gemacht worden, sie schaukelten vertäut in den sachten Wellen am Kai. Es roch nach der salzigen Brise, die vom Meer über die Ems heranwehte, nach Frost und ganz leicht nach Dieselöl. Schon seltsam, wie sehr sich ein Ort nach Heimat anfühlen konnte, dachte Oliver. Und das, obwohl so viele Jahre vergangen waren.
Als Kind war ihm das kleine Hafenbecken am Fuße der Altstadt riesig vorgekommen. Es war ein einziger Abenteuerspielplatz gewesen. Vor allem in den endlosen Sommern, in denen Peter und er per Kopfsprung von der Brücke ins Wasser gesprungen und im Hafen um die Wette geschwommen waren. So was war Kindern heute natürlich streng verboten, aber nicht zu ihrer Zeit. Sie waren in den Sommerferien regelmäßig mit einem leuchtend blauen Schlauchboot ins Hafenbecken hinausgepaddelt, als wäre das völlig ungefährlich. Er erinnerte sich an den Blick, den sie vom Wasser aus hatten, auf den Rathausturm und die Alte Waage, an das Plätschern der Wellen am Boot, an die Geräusche der Stadt, die fern und entrückt wirkten.
Als Peter und er älter wurden, hockten sie nachts am Kai, betrachteten den Sternenhimmel, rauchten heimlich Zigaretten und tranken Wodka, und wenn er betrunken war, sagte Peter jedes Mal: »Wir werden niemals wie unsere Eltern, nicht wahr? Das versprechen wir uns.« Oliver erinnerte sich, wie ernst es seinem Freund war. Wie sie die Wodkaflasche feierlich kreisen ließen und er selbst den Schwur bekräftigte: »Niemals, Peter. Fest versprochen.«
»Was für ein verfluchtes Wetter«, riss ihn sein Vater nun aus den Gedanken, der in seinem Rollstuhl neben ihm saß. »Schweinekalt ist es«, beschwerte er sich. »Und eine steife Brise haben wir. Ich weiß nicht, was das soll.«
Oliver unterdrückte einen Seufzer, nicht zum ersten Mal an diesem Tag. Wie immer hatte sein Vater etwas auszusetzen. Egal, wie schmerzhaft schön die Aussicht auf das Hafenbecken war. Wie viel Familiengeschichte hier beim Blick übers Wasser lebendig wurde.
Er dachte an den Schwur von damals und lächelte.
»Jetzt hast du ihn gesehen, den Hafen«, fuhr sein Vater übellaunig fort. »Wir können also weiter.«
»Ich dachte, ich fahre dich ein bisschen rum. Wir wollten einen gemütlichen Spaziergang machen.«
»Das tun wir doch. Heißt ja nicht, dass wir bei der Kälte ins Wasser starren müssen.«
»Jetzt frierst du. Ich habe gesagt, nimm die Decke.«
Er brummte abfällig, wandte demonstrativ den Blick ab. Es war ihm zu blöd, sich eine Decke über die Knie zu legen. Er fand das verweichlicht. Da fror er lieber.
»Sollen wir ein Stück die Leda runtergehen?«, fragte Oliver. »Wir könnten bis zum Ruderclub und dann durch die Altstadt zurück nach Hause.«
»Ich lebe hier seit dreiundachtzig Jahren, Junge. Ich weiß, wie die Leda aussieht.«
Olivers Stimmung sank weiter, sofern das noch möglich war. Er hätte jetzt in London sein können, dachte er. Oder am Strand in Thailand. Weihnachten unter Palmen, das wäre ohnehin das Vernünftigste gewesen. Stattdessen war er hier. Weil sein Vater gesundheitlich angeschlagen war. Weil keiner sagen konnte, wie viele Weihnachten er noch erleben würde. »Du fehlst ihm«, hatte seine Schwester Sandra am Telefon gesagt. »Auch wenn er das nie zugeben würde. Willst du dieses Jahr nicht Weihnachten nach Ostfriesland kommen? Tu es für ihn.«
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