Inhaltsverzeichnis2. TagDienstag
Morellos Wohnung
Ein kleines Haar zittert.
Es ist ein kräftiges, borstiges kleines Haar, das bei jedem Luftzug vibriert. Es ist dunkel, nahezu schwarz und deshalb kaum zu sehen, weil es sich in der Höhle, in der es wächst, nicht von dem dunklen Hintergrund abhebt. Mit jedem Atemzug kitzelt die Spitze des Haares die empfindliche Schleimhaut in der Nasenspitze des Commissarios.
Im Schlaf bläst Morello mehrmals einen festen Luftstoß durch die Nasenöffnung. Das verschafft ihm für einen Augenblick Erleichterung. Doch als seine Atemzüge wieder regelmäßig fließen, kitzelt ihn das verfluchte Haar erneut. Mit einer unwirschen Bewegung wischt er sich mit dem Handrücken übers Gesicht.
Und ist wach.
Im gleichen Augenblick hört er die Kirchenglocke des schiefen Turms neben seiner Wohnung.
Kling-dong, kling-dong, kling-dong …
Cazzo, es waren nicht diese Glocken, die ihn aus dem Schlaf gerissen haben, sondern ein Nasenkitzeln. Die Glocken dröhnen vielleicht schon minutenlang. Das kann nur eines bedeuten: Er hat sich an den Glockenlärm gewöhnt. Und das ist gar nicht gut.
Cazzo, er will sich in dieser Stadt an nichts gewöhnen. Nicht an die Touristenmassen, nicht an die stinkenden Kanäle und erst recht nicht an diesen dröhnenden schiefen Turm direkt neben seinem Schlafzimmer. Immerhin: Lombardi hat versprochen, ihn zurück in seinen Heimatort Cefalù in Sizilien zu versetzen, wenn er den Mörder von Paolo Salini gefasst hat.
Er zieht sich die Decke über den Kopf und schließt die Augen.
Kling-dong, kling-dong, kling-dong …
»Verfluchte Stadt!«, schreit er und springt aus dem Bett.
Ein Handtuch um die Hüfte gewickelt kommt er aus dem Bad und geht in die Küche. Dort startet er sein geliebtes morgentliches Ritual. Er schaltet das kleine Radio an, nimmt den Bialetti-Espressokocher aus dem Schrank und stellt ihn aufs Spülbecken.
Das Radio spielt einen Song von Lucio Dalla: Balla balla ballerino.
Gut gelaunt singt er mit und bewegt sich im Rhythmus der Musik. Schraubt das Kannenoberteil ab, hält den Kessel unter den Wasserhahn und lässt mit einem schmalen Strahl Wasser hineinlaufen. Dann überprüft er die Feineinstellung des Mahlwerkes, korrigiert sie ein wenig, sodass das Pulver heute etwas feiner wird, gibt die Bohnen hinein, die seine Mutter ihm letzte Woche aus Sizilien geschickt hat, mahlt sie, füllt das Pulver mit einem Teelöffel sorgsam in das Sieb, drückt es leicht an, schraubt das Oberteil auf den Kessel und stellt das Gerät auf die Flamme des Gasherdes.
Das Lied ist zu Ende. Es folgen die Nachrichten. »In Venedig wurden zwei Touristen festgenommen, weil sie eine Gondel gestohlen haben sollen. Die beiden Franzosen sollen die Gondel von der Accademia-Station neben der gleichnamigen Brücke entwendet haben, um eine Spritztour auf dem Canal Grande zu machen. Einheimische alarmierten die Polizei, weil ihnen auffiel, dass die Gondel im Zickzack hin und her fuhr. Giorgio Bognolo, der Besitzer der Gondel, wurde um 3.10 Uhr von der Polizei angerufen. ›Sie benutzten es als Kanu, aber eine Gondel lässt sich nicht wie ein Kanu steuern, sie fährt nicht geradeaus. Die Polizei hat uns voneinander abgehalten, aber ich hätte sie gerne verprügelt.‹
Heute findet im Consiglio regionale, dem Parlament von Venetien, eine wichtige Abstimmung über den Ausbau des Flughafens Marco Polo statt. Da sich zuletzt auch die ParteiLIGA dafür ausgesprochen hat, ist die Zustimmung nur noch eine Formsache. Wegen Warnstreiks kommt es heute zwischen 8.00 und 20.00 Uhr zu Flugausfällen.«
Immer noch nur mit Handtuch bekleidet geht Morello zurück ins Schlafzimmer. Er schiebt die Gardinen ein Stück zur Seite und schaut nach draußen. Leichter Nebel umhüllt den Glockenturm und den gesamten Platz vor der Kirche San Pietro di Castello. Morello schüttelt sich. Norditalien. Was erwartest du hier schon vom Wetter, Antonio?
Dann schlüpft er in Hemd und Hose.
Als er zurück in die Küche kommt, röchelt die Bialetti