Anna
«Guten Morgen, Nelly!» Anna zog den Rollladen einen Spalt auf und ließ die Sonne ins Zimmer ihrer Tochter.
«Ich mag nicht aufstehen.» Nelly zerrte die Bettdecke über ihren Kopf.
«Nur noch ein Mal. Dann hast du vierzehn Tage Pfingstferien.»
«Zum Glück», ertönte es dumpf aus den Daunen. «Kommt Papa uns heute Nachmittag abholen?»
«Nein, ich fahre euch zu ihm.» Anna setzte sich zu ihrer Tochter ans Bett. Unter der Decke hörte sie ein leises Schnurren. Anna schlug sie zurück und blickte in zwei grüne Augen, die sie ohne jedes Schuldbewusstsein anschauten.
«Herr Karlsson!» Sie hob den roten Kater hoch und hielt ihn vor sich. «Du weißt doch genau, dass du hier nichts zu suchen hast.»
«Sein Schuhkarton ist kaputtgegangen, und er konnte nicht schlafen.» Nelly setzte sich auf. Eine Strähne hatte sich aus ihrem langen blonden Zopf gelöst. Sie strich sie sich aus dem Gesicht und zeigte auf den Pappkarton auf der Fensterbank. Er war an der Seite eingerissen. Das passierte ständig. Herr Karlsson war nämlich viel zu dick für die klitzekleinen Kartons, in die er sich mit Vorliebe quetschte. Er war schon ziemlich neurotisch, dieser Kater. Genau wie Nelly. Annas Blick schwenkte zu dem Poster, das über dem Bett ihrer Tochter hing. Jamie Oliver war darauf abgebildet, wie er in einer großen Pfanne rührte. Welches achtjährige Mädchen kochte schließlich lieber komplizierte Menüs, anstatt mit anderen Kindern zu spielen? Nelly war schon ein ungewöhnliches Mädchen. Sophie dagegen, Nellys vierzehnjährige Schwester, verhielt sich so wie jeder Teenager in ihrem Alter. Leider.
Anna setzte den Kater auf den Boden, stand auf und ging hinaus.
«Sophie!» Sie klopfte an die Tür ihrer älteren Tochter. «Aufstehen!»
Erst nach dem dritten Klopfen ertönte der vertraute Grunzlaut, das Zeichen, dass Sophie sie gehört hatte. Neben Türenschlagen war er derzeit Sophies einzige Kommunikationsform.
Anna spürte, wie Herr Karlsson sich nachdrücklich an ihre Beine presste, und ging in die Küche, um sein Futter zu holen. Als sie den Schrank öffnete, fielen ihr ein paar Plastikdosen entgegen.
Wieder mal vollgestopft bis an den Rand. Genervt warf Anna die Dosen wieder hinein. Gleich heute Nachmittag, wenn sie die Mädchen bei ihrem Exmann abgesetzt hätte, würde sie damit anfangen, die Wohnung aufzuräumen. Vielleicht sollte sie ihren Urlaub auch dazu nutzen, ein paar Wände neu zu streichen? Ein bisschen Farbe könnten sie gut vertragen. Genau wie ihr Leben.
Sogar Frau Kurz, ihre 75-jährige Nachbarin, hatte ein aufregenderes Privatleben als sie. Und das schon seit dem Tag vor fünf Jahren, als Anna dieseSMS auf Max’ Handy gefunden hatte. Das böse F-Wort war darin vorgekommen, und die Nachricht hatte leider nicht von ihr gestammt. Lange Zeit hatte sie sich eingeredet, dass ihr das überhaupt nichts ausmachte. Die Jahre mit Max waren schließlich turbulent genug gewesen. Doch in der letzten Zeit konnte sie ihre Sehnsucht immer weniger verdrängen. Vielleicht hielt die Zukunft doch noch ein bisschen mehr für sie