: Cay Rademacher
: Verlorenes Vernègues Ein Provence-Krimi mit Capitaine Roger Blanc
: DuMont Buchverlag
: 9783832170127
: Capitaine Roger Blanc ermittelt
: 1
: CHF 8.00
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: Krimis, Thriller, Spionage
: German
: 382
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Ein Rudel Wölfe in einer Geisterstadt mitten in der Provence - ein ungewöhnlicher und dramatischer siebter Fall für Capitaine Roger Blanc Anfang Januar in der Provence. Schnee fällt, und die Tage verlaufen ruhig für die Gendarmen, denn in der Kälte scheint selbst das Verbrechen erstarrt zu sein. Mitten in der Nacht werden Capitaine Blanc und Lieutenant Tonon jedoch zu einem rätselhaften Einsatz in eine Geisterstadt gerufen. Vieux Vernègues ist ein mittelalterlicher Ort, der eine Idylle wie aus dem Bilderbuch sein könnte, hätte nicht ein Erdbeben ihn vor gut hundert Jahren zerstört. Jetzt ist es ein verlassenes Trümmerfeld im Schatten einer düsteren Burgruine. Alarmiert wurde die Gendarmerie von zwei alten Schafhirten. Zwölf Tiere ihrer Herde wurden in weniger als einer Stunde getötet - von Wölfen. Schnell spricht sich herum, dass ein Wolfsrudel die Gegend unsicher macht. Diese Tiere stehen unter Naturschutz, doch die Angst ist stärker: Schäfer, Jäger und sogar der Bürgermeister scheren sich nicht um die Gesetze und greifen zu den Waffen. Blanc und seine Kollegen merken zudem bald, dass noch weitere Gestalten nachts durch die Wälder streifen und seltsame Dinge tun. Jeder misstraut jedem, und alle fürchten den Wolf - eine explosive Lage, die schließlich außer Kontrolle gerät. Denn tatsächlich wird bald ein Toter zwischen den Ruinen gefunden ... Mord in der Provence - Capitaine Roger Blanc ermittelt: Band 1: Mörderischer Mistral Band 2: Tödliche Camargue Band 3: Brennender Midi Band 4: Gefährliche Côte Bleue Band 5: Dunkles Arles Band 6: Verhängnisvolles Calès Band 7: Verlorenes Vernègues Band 8: Schweigendes Les Baux Band 9: Geheimnisvolle Garrigue Band 10: Stille Sainte-Victoire Alle Bände sind eigenständige Fälle und können unabhängig voneinander gelesen werden.

CAY RADEMACHER, geboren 1965, schreibt in mehrere Sprachen übersetzte Kriminalromane, etwa die>Trümmermörder<-Trilogie aus dem Hamburg der Nachkriegszeit oder die Provence-Serie um Capitaine Roger Blanc. Außerdem erschienen>Ein letzter Sommer in Méjean< (2019),>Stille Nacht in der Provence< (2020) und>Die Passage nach Maskat< (2022) sowie das historische Sachbuch>Drei Tage im September< (2023). Cay Rademacher lebt mit seiner Familie bei Salon-de-Provence.

Wölfe in der Geisterstadt

Zwischen den Ruinen von Vieux Vernègues war es so still wie in einer Gruft. Capitaine Roger Blanc ging langsam durch das verwüstete Dorf. Er kletterte über den Stumpf einer ginsterüberwucherten Wand und erreichte eine Treppe, die in eine Felsenkammer hinunterführte. Die Stufen waren ausgetreten und manche tückisch glatt, andere waren geborsten, wieder andere hatten Risse. Zu beiden Seiten der Treppe wuchsen junge Eichen. Ihre Stämme waren wie dünne Säulen, ihre Kronen rauschten fünf, sechs Meter über Blanc im eisigen Wind, die winzigen Blätter schimmerten hellgrün. An einigen Ästen hingen noch braunschwarze, eisverkrustete Eicheln. Blanc kamen die beiden Bäume, die sich über die Ruine wölbten, wie das Portal zu einer verbotenen Welt vor.

Vorsichtig stieg er die Treppe hinunter in einen halb eingestürzten Keller. Über ihm spannte sich ein Ziegelgewölbe. Dort klaffte ein Riss, als hätte Gott mit einer Axt hineingeschlagen. Durch die Lücke sickerte die Morgensonne und beleuchtete einen Balken im Mauerwerk, der von Sinterkristallen überzogen war. Die Tür darunter war längst verwittert, auf dem Boden lagen bloß noch Holzreste im grauen Sand. Die Luft schmeckte muffig nach feuchter Erde.

Er wartete, bis sich seine Augen an das Halbdunkel gewöhnt hatten, und blickte sich um. Niemand zu sehen. Keine Geräusche. Er kletterte wieder hinaus und musterte die Umgebung: Überall ragten Ruinen auf, fahlgrau im Morgendämmer, konturlos. Die massigen Ecksteine eines alten Hauses erhoben sich fünf Meter hoch aus einem Schuttfeld. Eine steinerne Wendeltreppe, die nirgendwo mehr hinführte, wurde von Rosmarin- und Thymiansträuchern überwuchert. Unter dem Raureif leuchteten, nur wenige Meter neben ihm, weiße und schwarzgraue Steinfliesen, sie waren wunderbarerweise so sauber, als wären sie erst gestern verlegt worden.

Blanc legte den Kopf in den Nacken. Die Ruinen von Vieux Vernègues standen an der Flanke eines Bergs, der sich einige Meter über ihm zu einem Plateau abflachte. Dort war einst eine Burg errichtet worden. Er blickte hinauf zu ihren Mauern aus Tausenden sorgfältig gesetzten, kopfgroßen Steinen, die erst in unfassbarer Höhe in einer Zinnenreihe endeten. Doch auch diese solide Mauer war an vielen Stellen geborsten – und dahinter war bloß Luft. Kein Turm ragte mehr dort auf, kein Palast, nichts. Nur ein einziger gotischer Bogen krümmte sich wie ein gichtiger Riesenfinger ins Leere. Sein schwarzer Schatten fiel auf Trümmerhaufen, die längst von struppigen Büschen und Brombeeren überwachsen waren.

»Wir sollten hier nicht allzu lange stehenbleiben«, sagte Blancs Kollege Lieutenant Marius Tonon halblaut. Er rieb sich die Hände warm und deutete dann unbehaglich auf den Riss im Gewölbe. »Ein Souvenir vom Erdbeben. Dieser Keller kann jeden Moment einstürzen.«

Blanc nickte und ging weiter bergan. Vieux Vernègues. Eine Stadt wie Dutzende in der Provence: ein Hügel, darauf eine Burg, eine Kirche, ein Rathaus, eine Handvoll ehrwürdiger Häuser. Nur dass Vieux Vernègues eine Stadt der toten Seelen war, eine Geisterstadt, in der Eichen und Feigenbäume Mauerstümpfe aufsprengten, Efeu die Ruinen erstickte und in der bloß noch Füchse und Ratten lebten. Ein Erdbeben hatte sich den Ort geholt. Blanc fühlte sich, als würde er durch die Relikte eines mykenischen Palastes stapfen. Doch diese archaisch anmutenden Bauten waren zu Trümmern zerfallen, als schon Autos durch die Provence fuhren und sogar die ersten Flugzeuge brummten, als es schon Telefone gab und Strom und Zeitungen und Fotoapparate.

Erdbeben. Als Capitaine Roger Blanc, der damals den Süden weder gekannt noch gemocht hatte, vor sieben Monaten in den Midi versetzt worden war, da hatte er an Hitze und Rosé gedacht, an Lavendel und Oliven, an die Marseiller Mafia. Aber an Erdbeben? Das waren Katastrophen aus dem Fernsehen.

Und nun schritt er an aufgerissenen Bauten und geborstenen Türmen vorbei und musste aufpassen, dass er nicht irgendwo in ein Loch trat und womöglich mehrere Meter tief in einen halb verschütteten Keller stürzte.

Er hielt inne, damit Marius, der kein großer Freund körperlicher Aktivitäten war, Luft schnappen konnte. Der Schutt deprimierte Blanc, daher wandte er den Blick ab und ließ ihn über ein weites Tal wandern. Der Berg von Vieux Vernègues war fast vierhundert Meter hoch. Auf einem nahen Hügel badete ein anderes Dorf in der Morgensonne: Lambesc. Ein mittelalterliches Dorf wie Vieux Vernègues, in der mistralklaren Luft hatte es den Anschein, als könnte er es mit der ausgestreckten Hand beinahe berühren. Dieses Dorf war ebenfalls alt – jedoch makellos. Warum bloß? Waren Erdbeben nicht gigantische Katastrophen? Warum w