KAPITEL 1
BLAIR
IRGENDWO IN VALHALLA
Das Ende der Welt hatte begonnen – und ich war diejenige, die es herbeigeführt hatte. Ich war diejenige, die Ryan – und damit das Chaos – nach Valhalla gebracht hatte, weil ich den Gedanken nicht ertragen konnte, ihn zu verlieren. Cyrus musste damit gerechnet haben. Er wusste, wie wichtig Ryan mir war – und das hatte er gnadenlos ausgenutzt. Er hatte das Leben seines eigenen Sohnes aufs Spiel gesetzt, um sein Ziel zu erreichen. Und jetzt hatte er gewonnen.
Ein Beben erschütterte den Boden, hallte in meinen Gliedmaßen nach und zwang mich in die Knie. Auch Ryan geriet ins Straucheln. Direkt vor unseren Augen wuchs Zevs Wolfsgestalt weiter an, immer weiter, bis er so riesig wurde, dass er sogar einen Teil des Himmels verdeckte. Schwarzes, struppiges Fell. Rot glühende Augen. Heißer Atem. Speichel floss ihm aus dem Maul und ein tiefes Knurren löste sich aus seiner Kehle, als er uns anstarrte.
Mein Herz hämmerte so panisch, dass ich das Rauschen meines eigenen Blutes in den Ohren wahrnehmen konnte. Zum ersten Mal begriff ich, warum selbst die Götter Angst vor dem Fenrirwolf gehabt hatten. Warum sie darauf bestanden hatten, dass die einzige Möglichkeit, sich vor ihm zu schützen, darin bestand, ihn in Ketten zu legen. Nur waren diese Ketten nie aus Eisen und Metall gewesen, wie ich und vermutlich auch alle anderen geglaubt hatten. Die Götter hatten sich etwas viel Perfideres überlegt und den mächtigen Wolf an Valhalla und an die Valkyren gebunden. Dieser Ort war seine Fessel gewesen, da er ihn nie verlassen konnte, es sei denn an der Seite einer Valkyre. Oder am Tag von Ragnarök.
Ich schnappte nach Luft, denn plötzlich ergab alles einen Sinn. Wie er nachts ganz allein durch das BestattungsinstitutNorth geschlichen war. Wie er mir geholfen hatte. Kein Wunder, dass es ihm kurz nach meiner Ankunft in Vancouver so wichtig gewesen war, mich zu begleiten. Wahrscheinlich war es das erste Mal gewesen, dass er das Gebäude verlassen konnte. Aber er war auch die ganze Zeit an meiner Seite geblieben, nicht nur auf dem Friedhof, sondern auch dann, als es gefährlich wurde. Ganz besonders, als ich mich dem Diener des Chaos gegenüber fand und sich meine Kräfte zum allerersten Mal gezeigt hatten.
»Zev …«, stieß ich hervor und wich langsam vor ihm zurück. Erde und kleine Steine bohrten sich in meine Handflächen. »Das willst du nicht wirklich. Wir sind Freunde, weißt du nicht mehr?«
Ein gefährliches Knurren war die einzige Antwort. Ein Knurren so laut wie ein Donnerschlag. Ich zuckte zusammen und zog instinktiv den Kopf ein.
»Er ist nicht dein Freund, Blair«, kam es leise von Ryan. Ohne dass ich es bemerkt hatte, hatte er sich schützend vor mich gestellt und streckte jetzt den Arm aus, um mich zurückzuhalten.
»Das sagt der Richtige, Mr Chaos.« Ich sprang auf und schob seinen Arm entschieden beiseite.
Zev neigte den Kopf nach unten und knurrte erneut. Lauter. Bedrohlicher.
Mein Magen zog sich vor Furcht zusammen und meine Muskeln begannen zu zittern, aber ich weigerte mich noch immer wegzulaufen. Das hier war schließlich Zev. Das hier war mein Freund. Oder … war er das nie gewesen? Hatte Ryan recht? Hatte Zev mich von Anfang an nur benutzt, um Ragnarök herbeizuführen? Zumindest hatte er mir als Einziger dabei geholfen, Ryan nach Valhalla zu bringen. Und wenn er gewusst hatte, dass Ryan ein Diener von Vidar, dem Gott des Chaos war, dann … Ich presste die Lippen aufeinander und schüttelte den Kopf. Nein, das wollte ich nicht wahrhaben. Das konnte einfach nicht wahr sein. Erst Kendra und Maeve, die uns alle verraten hatten –, und jetzt auch noch Zev?
»Wir müssen hier weg«, kam es von Ryan.
Wieder bebte der Boden und die Erschütterung warf uns beinahe um. Ein Krachen ertönte und ich wirbelte herum. Die Häuser, die nicht weit von der Weltesche beisammenstanden, fielen in sich zusammen. Das Zuhause von so vielen Valkyren und Kriegern. Mein Zuhause.
»Nein.«
Ein Rascheln in den Zweigen mischte sich unter das allgegenwärtige Rumoren. Es kam immer näher, bis etwas Kleines, Pelziges aus dem Baum heraussprang und auf meinem Kopf landete. Ich zuckte vor Schreck zusammen, doch bevor ich reagieren konnte, krabbelte das Tierchen unter meinen Pullover und hielt sich zitternd fest. Als ich nach unten blickte, entdeckte ich zwei braune Knopfaugen, spitze Öhrchen und eine zuckende Nase in meinem Ausschnitt. Ratatöskr. Das Eich