Kapitel 1
Verion
Mein Fell ist völlig durchnässt, als ich mit meinem Gefolge das Schloss von König Iramon erreiche. Die sonst so glänzenden weißen Steine der Fassade sind von einem tristen grauen Nebel umhüllt. Drei Tage lang hat es durchgeregnet. Die schlammige Erde haftet an meinen Pfoten und hinterlässt dunkle Abdrücke auf den hellen Pflastersteinen der Straße.
Meine Armee und ich hatten kaum unser Lager auf einer freien Wiese hinter Oberkenders Hauptstadt aufgeschlagen, da erreichte uns auch schon ein Bote Iramons und teilte uns mit, sein König habe ein Friedensangebot für uns. Lange habe ich mit meinen Männern darüber diskutiert, ob wir Iramon anhören oder an unserem Plan festhalten und die Stadt Tiweh angreifen. Statt der üblichen Tagesreise sind wir fast doppelt so lange unterwegs gewesen, obwohl wir uns nicht an die verschlungene Hauptstraße halten mussten und Abkürzungen durch Wälder und Wiesen genommen haben. Doch aufgrund des Regens mussten wir unsere Reise immer wieder unterbrechen, ein Zwischenlager aufbauen und warten, bis der Niederschlag nachgelassen hatte. Bei Beginn dieses Unwetter hatte bereits der halbe Weg hinter uns gelegen, weswegen eine Rückkehr nicht infrage kam.
Und nun laufe ich mit einem Geleit von Iramons Soldaten durch die Stadt, die Generationen meiner Familie einzunehmen versuchten. Ehrfürchtig sehe ich auf das große Eisentor, welches das Schloss von der restlichen Stadt trennt. Zahlreiche Kratzer zeugen noch heute von dem Tag, an dem mein Vater versucht hat, in das Schloss einzudringen, um den damaligen König zu stürzen und das gespaltene Land unter seiner Alleinherrschaft wieder zu vereinen. An jenem Tag haben sowohl Iramon als auch ich unsere Väter verloren und unsere Herrschaft begann. Mit gerade einmal neunzehn Jahren haben wir die Throne von Ober- und Unterkender bestiegen, mit dem Versprechen an unsere Väter, dass wir alles unternehmen würden, um den jeweils anderen Teil von Kender zu unterwerfen und so die Alleinherrschaft des vereinten Königreiches an uns zu reißen.
Unter einem lauten Rumoren öffnet sich das Tor und gibt den Blick auf das Schloss frei. Erst jetzt ist die Pracht der weißen Steine wirklich zu erkennen und stellt damit ein Gegenbild zu den dunklen Steinen meines Schlosses in Jola dar. Dennoch wirkt es trostlos und wenig einladend.
Bis auf die Soldaten befindet sich keine einzige Seele auf dem Hof. Doch rechts bei den Stallungen kann ich sehen, wie uns einige Wandler an die Wände gepresst beobachten. Unsere Völker leben schon so lange im Krieg, dass sich die Angst vor einem jederzeitigen Angriff tief in ihnen verankert hat.
Zwei Soldaten öffnen die breite Eingangstür des Schlosses. Das Wasser tropft von meinem Fell auf den hellen Marmorboden, als ich eintrete und durch die breiten Gänge laufe. Es wirkt von innen genauso ungemütlich wie von außen. Die weißen Steine verkleiden das Schloss, hier drinnen ist alles wesentlich dunkler, karg und steril. Die einzige Dekoration sind die Wachen, die wie versteinert in einigen Metern Abstand voneinander stehen. Ihre graue Kleidung wird beinahe eins mit den Steinen.
Wir folgen Iramons Soldaten den Gang entlang, vorbei an zahlreichen dunklen Holztüren, bis wir vor dem Thronsaal stehen bleiben. Zwei der Wachen öffnen uns die Tür. Der Schlamm fällt noch immer von meinen Pfoten, als ich die vier Stufen hinaufsteige. Keine einzige Vase oder Blume schmückt den riesigen Raum, der dadurch kalt und ungemütlich erscheint. Alles hier wirkt so trostlos. Nicht einmal ein bisschen Sonne scheint durch die großen Fenster. Der Himmel ist noch immer mit grauen Wolken verhangen. Nur die vielen Kerzen in den Kronleuchtern sorgen für ein wenig Wärme.
Meine sechs besten Krieger bleiben dicht neben mir, allen voran mein engster Vertrauter Jared. Jaguare sind unter den Raubkatzen in ihrer Gestalt etwas größer und kompakter als wir Leoparden, aber Jared übertrifft jeden seiner Art, der mir bisher begegnet ist. Seine breiten Schultern und der muskulöse Körperbau wirken bedrohlich. Er ist der geschickteste Krieger, den ich kenne, sowohl in seiner menschlichen Gestalt als auch als Raubkatze. Seine gelbbraunen Augen sind auf König Iramon gerichtet und seine Haltung ist leicht geduckt. Er ist bereit, jederzeit anzugreifen, wenn dies hier eine Falle sein sollte.
Seit ich denken kann, steht mein Königreich mit dem von Iramon im Krieg. Seit unser Urgroßvater Armon das Königreich vor vielen Jahren geteilt hat, bekriegen sich seine Erben, um über das gesamte Land zu herrschen. Armon konnte sich nicht en