Der erste Eindruck ist entscheidend.
Hat dir das deine Mom nicht beigebracht?
Anna
»Bist du glücklich?«, will meine Freundin Lucy plötzlich während unseres Telefonates wissen. Instinktiv umklammere ich mein Handy fester und stütze die Füße auf dem hölzernen Geländer vor mir ab. Die meiste Zeit meines Lebens habe ich in der Großstadt verbracht, umgeben von Hochhäusern, nie enden wollenden Gesprächsfetzen und Verkehrslärm. In der Luft hing stets ein Geruch von Essen vermischt mit Abgasen. Nun sitze ich auf der Terrasse meiner Einzimmerwohnung in einer kleinen Küstenstadt in South Carolina. Der Ozean ist nur wenige Schritte entfernt, die Sonne wärmt meine Haut und eine leichte Brise streicht mir das Haar aus dem Gesicht. Ein gewaltiger Unterschied zu Chicago. Langsam frage ich mich, wie ich es dort so lange aushalten konnte.
»Noch nicht, aber ich bin auf dem besten Weg dahin«, beantworte ich Lucys Frage und beobachte lächelnd ein Paar, das nicht weit von mir mit ihrem Kind in der Meeresbrandung spielt.
»Obwohl dein Zuhause aus einem einzigen Zimmer besteht und du in einer Bäckerei arbeitest?« Sie klingt genauso skeptisch wie der Rest meiner Bekannten in Chicago. Sie verstehen nicht, warum ich meinen lukrativen Job, das schöne Penthouse und meine Hochzeitspläne mit einem gut situierten Mann – der auch noch wirklich toll aussieht – gegen das hier eintauschen konnte. Ein Leben in einer Stadt, in der ich nahezu niemanden kenne. Gegen eine Wohnung, die in meinem alten Badezimmer Platz gefunden hätte, und einen Job, der mir in einem Monat so viel einbringt, wie ich früher in einer Woche verdient habe.
»Ja, obwohl mein Zuhause nur aus einem Zimmer besteht und ich in einer Bäckerei arbeite«, wiederhole ich ihre Worte in einem möglichst neutralen Tonfall, ehe ich die Stimme senke. »Aber ich vermisse dich.« Was keine Lüge ist: Seit ich denken kann, ist Lucy an meiner Seite. Unsere Eltern waren befreundet, also sind wir zusammen aufgewachsen.
»Dennoch ist es mir ein Rätsel«, sagt sie und seufzt. Mir schnürt sich die Brust zusammen. Ich hoffe immer noch, dass meine Freunde und meine Familie begreifen werden, warum ich Chicago verlassen habe. Doch je mehr Monate vergehen, desto klarer wird mir, dass es vergebens ist. Keiner von ihnen versteht mich. Sie können nicht nachvollziehen, dass ich diese Entscheidung nicht von heute auf morgen gefällt habe. Ihrer Meinung nach bin ich eines Tages aufgewacht, habe meine Koffer gepackt und alles in einer Hauruck-Aktion zurückgelassen. Was sie nicht wissen, ist, dass ich über Jahre hinweg morgens in den Spiegel blickte und hasste, was ich dort sah. Eine oberflächliche Frau, die nur einen Wert kannte: den des Geldes. So wollte ich nicht sein, wurde aber mit jedem Tag ein Stück mehr zu ihr. Bis ich endlich den Mut aufbrachte, etwas dagegen zu unternehmen.
»Ich sollte dich nicht länger aufhalten«, wende ich mich wieder an Lucy. »Du hast bestimmt viel zu tun, und Edie wartet auf mich, damit wir zusammen zum Bingo gehen können.«
»Bingo? Du spielst Bingo?« Sie findet diese Tatsache offenbar zum Totlachen lustig.
Auch im muss lächeln, allerdings aus Vorfreude auf den Abend, der mir bevorsteht. »Ja, es macht Spaß.«
»Wenn du das sagst«, entgegnet sie und klingt abgelenkt. Kurz darauf höre ich eine mir vertraute Männerstimme bei ihr im Hintergrund. Mir ist sofort klar, wer da mit ihr spricht. Lance, mein Ex-Verlobter, der Partner in der Firma ist, in der Lucy arbeitet. Er scheint sie etwas zu fragen, dann wendet sie sich