Spaß IRL und Realitätsreue
MEINE PROBLEME BEGANNEN in dem Moment, in dem ich mein Handy einschaltete.
Geistig und körperlich ausgelaugt kroch ich aus meinem Kokon, schleppte mich in die Küche und setzte Wasser auf. Dann drückte ich auf die Einschalttaste meines alten Mobiltelefons und dachte dabei gar nicht darüber nach, dass jemand meinen Standort per GPS verfolgen könnte. Ich war zu müde, um mich um solche Kleinigkeiten zu kümmern, und hatte außerdem nicht die Absicht, das Telefon länger als zwei Minuten eingeschaltet zu lassen.
Sobald ich jedoch einen Blick auf den Bildschirm geworfen hatte, war meine Müdigkeit wie weggeblasen.
318 verpasste Anrufe. Wer versuchte da so hartnäckig, mich unter meiner alten Nummer zu erreichen?
Noch bevor ich es geschafft hatte, einen genaueren Blick auf die Nummern des Anrufers zu werfen, vibrierte das Telefon in meiner Hand und zeigte ebendiese Nummer an.
Mein Vater! Es war mein Vater.
Verdammt. Ich hoffte inständig, dass er nicht derjenige gewesen war, der über 300 Mal versucht hatte, mich zu erreichen. Wenn er es gewesen war, musste er inzwischen richtig wütend sein. Meine Hände begannen so heftig zu zittern, dass mir das Telefon fast aus den ungeschickten, vor Angst beinahe tauben Fingern geglitten wäre. Diese Reaktion war wie ein Pawlowscher Reflex, auch wenn mein Vater mittlerweile nicht mehr so ein Kontrollfreak war wie früher. Dennoch hallte der arktische Wind jedes Mal in meinen Ohren wider, wenn ich an meinen Vater dachte.
Ich tippte unbeholfen auf die Annahmetaste und hielt das Telefon an mein Ohr.
„Hallo?“
„Hallo!“, sagte eine mir unbekannte Stimme, die jung klang und in der eine verschleierte Feindseligkeit mitschwang. „Ist da Rostislaw Grokhotov?“
„Ja“, sagte ich, jetzt besorgt. „Aber wer zum Teufel sind Sie und warum benutzen Sie das Telefon meines Vaters?“
„Eine Sekunde! Bitte leg nicht auf, ich gebe ihm das Telefon.“
Nach ein paar bangen Sekunden hörte ich das Echo eiliger Schritte in einem geschlossenen Raum. Es gab ein kurzes Rascheln, etwas Gemurmel, und dann hörte ich eine vertraute Stimme. Sie klang zugleich wütend und unerwartet erleichtert. Die Stimme meines Vaters.
„Rostislaw!“
„Papa?“
„Bist du es?“
„Was genau meinst du? Wer sollte es sonst sein?“
„Hast du eine Ahnung … äh … weißt du denn nicht, was du ...“, begann mein Vater, doch dann unterbrach er sich. „Sohn? Wo bist du? Bist du am Leben? Gesund? Frei? Mobil?“
„Hä?“, fragte ich verdattert.
„‚Hä‘? Was soll das für eine Antwort sein? Auf der Brücke melden! Und zwar sofort!“
„Hey, ja, mir geht's gut, Papa! Ich sitze zu Hause und bin kerngesund. Wenn du mit ‚frei‘ meinst, ob ich gerade Freizeit habe, dann ja, habe ich. Und mobil? Was ist das für eine seltsame Frage?“, antwortete ich der „Brücke“ mit einiger Verwirrung. „Was ist denn passiert? Wie geht es Mama? Geht es ihr gut?“
„Es geht ihr gut, aber sie ist sehr besorgt, dass das klar ist! Also! Du hast mir gesagt, du wärst zu Hause, aber du bist nicht in deiner Wohnung. Wo bist du?“
„Zu Hause, sag ich doch!“
„Nein, du bist nicht zu Hause! Wo bist du?“
„Zu Hause, verflixt noch mal! Ach so. Moment, das habe ich völlig vergessen. Ich bin umgezogen. Woher weißt du außerdem, dass ich nicht zu Hause bin?“
„Weil ich gerade in deiner Küche stehe.“ In der Stimme meines Vaters lag Erleichterung, gut kaschiert zwar, aber doch hörbar. „Du bist also umgezogen. Verstehe. Wie lautet deine neue Adresse?“
Mein Vater in meiner alten Küche?
Langsam fühlte sich alles an wie ein zäher Albtraum. Ich spürte, wie meine Kehle sich zuschnürte.
„Papa, was ist dir denn passiert?“ Die spürbare Nervosität meines Vaters war auf mich übergesprungen. Ich nannte ihn „Papa“, ein Wort, das in unserer Familie schon lange nicht mehr verwendet worden war. „Und warum bist du überhaupt in meiner Stadt? Und wie hast du es geschafft, in meine Wohnung zu kommen?“
„Mir ist überhaupt nichts passiert. Aber dir? Du bist völlig vom Kurs abgekommen! Du steckst bis zum Hals in Schwierigkeiten! Du bist kurz davor, auf ein Riff auf