Prolog
Das Geborgene Land, im Norden des Vereinten Großkönigreichs Gauragon, an den Ausläufern des Grauen Gebirges,1023 n.B. (7514. Sonnenzyklus nach alter Zeitrechnung), Frühjahr
Unaufhörlich warfen sich die Wassermassen der Smaragdfälle über Felsvorsprünge dreißig Schritt in die Tiefe, bevor sie donnernd im breiten Becken einschlugen. Gischtschleier umspielten die stürzenden grünen Fluten des Flusses Towan. Die winzigen Tröpfchen wurden vom Wind umhergetrieben und verteilten sich weit in der bewaldeten Umgebung, gingen auf Blättern und an Rinden der Bäume nieder. Das helle Sonnenlicht erschuf einen schillernden Regenbogen, der scheinbar für alle Ewigkeit malerisch über dem Gewässer leuchtete.
Einige der klaren Tropfen landeten im geflochtenen dunklen Barthaar des leicht gerüsteten Zwerges, der am Ufer, in sicherer Entfernung vom breiten Kiesbett des Towan, stand; sie sammelten sich zu glitzernden Perlen, als wollten sie ihn zieren, zusätzlich zu seinen goldenen Schmuckspangen.
Es störte Barbandor Stahlgold aus dem Clan der Königswassertrinker nicht, dass die Tropfen sein wettergegerbtes Gesicht benetzten und auf dem Weg abwärts die eingegrabenen Linien und Narben in der Haut nachfuhren. Seine kräftigen Hände lagen locker auf dem aufwendig ziselierten Stahlkopf seiner schweren Kampfaxt, deren Stielende auf dem weichsteinigen Untergrund ruhte. Aus der Ferne wirkte der gestandene Zwerg wie ein sitzender Wanderer bei einer kurzen Rast.
Der Blick aus Barbandors braunen Augen schweifte aufmerksam über die schäumenden, grünlichen Wogen, die gut zehn Schritte vor ihm wirbelnd dahinzogen. Es roch nach Frische, duftenden Blüten und nassem Stein. Das Aufblühen der umliegenden Wiesen und Wälder, die an den südlichsten Ausläufern des Grauen Gebirges lagen, war deutlich wahrzunehmen.
Barbandor hatte sich freiwillig für diese Aufgabe gemeldet, wie er es stets tat, sobald die Zeit gekommen war.
Und dies geschah recht häufig.
Jedes Mal nach Wolkenbrüchen im weit entfernten Grauen Gebirge oder nach der Schneeschmelze oder nach anhaltenden starken Regenfällen über den Gipfeln und den Hängen der alten, aufgegebenen Heimat wuchs der Towan an und trug eine besondere, außergewöhnliche Fracht in seinen Wogen, die er irgendwann an Land spülte. Vor allem nahe der Smaragdfälle.
Mit einem tiefen Seufzen drehte Barbandor den Kopf und richtete den Blick mit Wehmut nach Norden. Dorthin, wo sich das Graue Gebirge befand. Oder zumindest das, was nach den vielen Beben und Erschütterungen in Hunderten Zyklen von ihm übrig geblieben war. Wo sich einst majestätische, namhafte Gipfel und uralte vielgestaltige Hänge emporgeschwungen hatten, in denen man Formen und Figuren, Bestien und Schönheiten hatte erkennen können, gab es nun lediglich abgebrochene Klippen, stumpfe Erhebungen und wie lieblos hingeworfene, aufragende Bergketten. Tagaus, tagein stiegen irgendwo Qualmwolken und Rauchschlieren aus weit entfernten jungen Vulkanen auf. Die Beben hatten das ehrwürdige Graue Gebirge vernichtet und zugleich auf dessen Sockel ein neues Massiv erschaffen, das noch längst nicht zur Ruhe gekommen war.
Der Anblick schmerzte Barbandor, obwohl er nie einen Fuß in die Berge, in die alte Heimat gesetzt hatte. Wie keiner seit mehreren Generationen der Fünften.
Die säulengestützten Hallen gehörten der Vergangenheit ebenso an wie die gefüllten Schatzkammern, die reichen Minen, die tönenden Schmieden und klingenden Werkstätten, wie die wunderschöne Handwerkskunst aus den Fingern zahlreicher begnadeter Zwerginnen und Zwerge. Das alles existierte bloß noch in Erzählungen, Niederschriften, Bildern und Zeichnungen. Und in unzähligen traurigen Liedern.
Niemand wusste, wie es nun um das Innere der alten Heimat stand.
»Vraccas, was taten wir, dass du uns derart gestraft hast?«, murmelte Barbandor.
Die Antwort vermochten die Lebenden nicht zu geben.
Hals über Kopf waren die Kinder des Schmieds vor etwas mehr als eintausend Zyklen geflohen, als die Beben begannen und Vulkane ausbrachen; geflohen, bevor das Graue Gebirge zum Grab für den Stamm der Fünften werden konnte. Dabei hatten sie den Großkönig aller Stämme und dessen legendäre Axt Feuerklinge verloren. Dieser Verlust traf die Zwerge wie das Geborgene Land gleichermaßen hart.
Ebenso erging es den Zweiten im Blauen Gebirge des Südens. Nur die Ersten im Westen und die Dritten im Osten waren glimpflich davongekommen. Sie harrten in den Behausungen im roten und schwarzen Gestein aus, auch wenn selbst ihre Reiche nicht mehr aussahen wie einst.
Am schwersten von allen hatte es das Reich der Vierten getroffen. Es war von mehr als nur Erdbeben und Vulkanausbrüchen heimgesucht worden, und die Folgen davon spürte das gesamte Geborgene Land. Seit Hunderten Zyklen.
Die Zwerginnen und Zwerge der Zweiten, Vierten und Fünften lebten nun in wehrhaften Siedlungen nahe der Gebirge. Wann sie zurückkehren würden, um aufzubauen, was zerfallen dalag, blieb ungewiss.
Ungewiss wie so vieles. Barbandor schloss die Lider, um sie mit Gischt benetze