Sigi
Die Leute hatten gar keinen Begriff davon, wie dämlich manche Männer sich an der Safttheke des Kaufhauses Wertheimer benahmen. Echt nicht. Standen da, glotzten, füllten sich mit Vitamindrinks plus Pestiziden ab und ließen sich wunderbar kategorisieren.Kategorisieren, was für ein Monstrum von Wort!, dachte Sigi. Sie hatte es von Thomas, und es hieß nichts anderes, als dass man anhand männlichen Trink- und Balzverhaltens jeden der Kerle sofort in die richtige Schublade stecken konnte.
Da gab es zum Beispiel jene, die sie ganz gezielt ansprachen und denen es egal war, was sie bestellten. Meistens das Billigste, O-Saft vielleicht. Ein Schluck Orangensaft, und schon war man beim Thema. Was so ein schönes Mädchen in dieser tristen Umgebung zu suchen habe, wann das schöne Mädchen nach Hause gehe, ob das schöne Mädchen befreundet sei und ob man nicht mal ein Gläschen mit dem schönen Mädchen trinken könne. Natürlich keinen O-Saft, haha.
Das waren die Typen, die einen in eine schäbige Pilskneipe schleppten und so taten, als sei es die Pianobar im»Hilton«. Die ihre Hände nicht bei sich behalten konnten. Und blöde Zicke sagten, wenn man ihnen die Hände leer zurückgab.
Die Männer der zweiten Schublade wollten tatsächlich gesund leben, gelangten aber bei Sigis Anblick zu der Erkenntnis, dass auch ein gehobener Adrenalinspiegel gesundheitsfördernd war. Die kriegten plötzlich den totalen Kickdown, sie lehnten sich vertraulich an die Theke, dehnten ihren Brustkorb, wohl in der Hoffnung, dass Sigi es ihnen gleichtue, und luden sie zum Abendessen ein. Das Ziel: ein anschließendes Frühstück.
Die Männer der dritten Schublade registrierten Sigis hinreißendes Aussehen wohlwollend und schweigend, gaben großzügige Trinkgelder und gingen ihrer Wege. Eine angenehme Spezies.
Und dann gab es noch die vierte Kategorie. Die Männer mit Köpfchen und Stil. Anzug, Krawatte, Aktenkoffer, Handy, gutes Rasierwasser. Sie verkehrten wiederum nur mit Leuten mit Köpfchen und lebten unter dem Glassturz der sozial Abgesicherten. Dachten, ihre Welt sei im Grunde auch die Welt der anderen. Zwar lasen sie in ihren superklugen Zeitungen von Arbeitslosigkeit, Armut, Raub und Mord, aber sie kapierten nicht, was sie lasen. Denn richtig kapieren konnte man nur, was man selbst oder in seinem Umkreis erlebte und mitempfand. Arbeitslosigkeit zum Beispiel. Sigi kam aus einer Kleinstadt und hatte mit zwanzig Jahren ihren Job als Textilverkäuferin verloren. In einem Pleiteladen. Sie ging nach München und jobbte als Bedienung. Der Wirt kam ihr zu nahe– sie musste gehen. Dann die Fabrik: Feinlöterin. Sie verliebte sich in einen Kerl, der in der Versandabteilung Kartons füllte und Gabelstapler fuhr. Stephan. Nach einigen Wochen stellte sie fest, dass er außer einem knackigen Hintern und einem hübschen Gesicht nichts zu bieten hatte. Ein Stammtischhengst, der alles nachplapperte, was die»Blöd-Zeitung« schrieb. Ein Typ ohne Ehrgeiz, ohne Interessen (Fußball mal ausgenommen), stolz auf seine schlechten Manieren, die er für urig-bayrisch hielt. Im Bett ein Stellungsakrobat, mehr nicht. Als sie ihn zum Teufel jagte– in der Mittagspause–, wurde er handgreiflich. Sie knallte ihm ihr Essenstablett auf den Kopf. Hätte sie abwarten sollen, bis er ihr den Kiefer brach? Ihre Schlagkraft hatte einen Ruf ins Personalbüro zur Folge, wo man ihr die Papiere aushändigte. Ihm nicht, er hatte ja kein Firmeneigentum beschädigt.
Jetzt galt sie auf dem Arbeitsamt als rabiat. Wieder jobbte sie. An der Rezeption eines Fitnessclubs. Bis sie darauf kam, dass dieser Club nicht Muskeln, sondern Schwellkörper aufbaute. Sie besuchte einen PC-Kurs, stinklangweilig. Sie las die Anzeige einer Agentur, die Models für ein Versandhaus anwarb, aber sie wurde nicht genommen, weil es ihr an Berufserfahrung mangelte und ihr Busen zu groß war. Und dann erhielt sie die Stellung im Kaufhaus Wertheimer. Mies bezahlt, aber besser als gar nichts. Tja…sie wusste, wie hart das Leben mit einem umsprang. Die Männer der vierten Schublade wussten nur, ob der DAX wieder ein paar Punkte gestiegen war, wie es auf den Datenautobahnen zuging, welche Premiere gerade verrissen worden war und dass im Jahr 2007 jede Saftverkäuferin ein Display besitzen würde, auf das der Saftkäufer drei Euro zwanzig elektronischüberweisen konnte– mittels eigenem City-PC.
Genau das machte diese Männer für Sigi so reizvoll. Guter Stall, Intelligenzquotient hoch, emotionaler Quotient unterentwickelt. Und erschreckend naiv, wenn es um Frauen ging. Was wiederum mit den Müttern dieser Männer zusammenhing. Die hatten den kleinen Liebling beschützt und bewahrt und in seinem Kopf ein Frauenbild geschaffen, das dem der heiligen Maria gleichkam. Solche Männer hofften, später auch so eine Mutterfrau zu ergattern, die ihnen ein Leben lang wohlgesonnen war und sie unbehelligt mit ihren diversen technischen und kulturellen Spielsachen spielen ließ. Wenn sie dann auf eine Frau wie Sigi stießen, sprengten ihre Hormone schnell ihre geistig-elitären Grenzen– vielleicht hätten diese Söhne auch mal mit ihren Vätern reden sollen. Die Triebeüberwucherten wie kleine, borstige Killeralgen den Intellekt. Ein junges, schwellendes Weib, das bezaubernd lächelte und mit einer angenehm weichen Stimme herzerfrischend natürliche und weltkluge Sachen von sich gab, wirkte wie ein Aphrodisiakum. Und dann das Pygmalionsyndrom, das diesen