Morgen
Der Blick der Frau ruhte auf dem halb entblößten Körper des schlafenden Mannes. Er lag auf dem Bauch, das Gesicht ihr abgewandt. Die dünnen, cremefarbenen Decken waren bis fast unter seine Hüfte gerutscht und malten so ein beinahe klischeehaftes Tableau. Die Frau saß nackt auf dem Bett, den Zipfel einer der Decken über ihren Schoß gelegt. Ihr wildes Feuerhaar mischte sich mit dem cremigen Weiß, eine Farbkombination, die ihr Freude gemacht hätte, hätte sie ihren Blick lange genug von der Rückenlinie ihres Bettgefährten abgewandt. Vor den Fenstern überzog eine dicke Wolkenschicht den Himmel, die das Sonnenlicht silbern auf die Welt sickern ließ. Es war ein gedämpfter Tag, und der Frau erschien das passend. Sie wusste, sie hätte abgestoßen sein sollen, angewidert sogar, und sie sollte sich beschmutzt fühlen. Für den Bruchteil eines Augenblicks letzte Nacht hatte sie das auch getan. Doch der junge Mann in ihrem Bett hatte etwas an sich, das ihr das Herz weitgemacht hatte, so wenig sie es rational nachvollziehen konnte. Und sie war eine rationale Frau, Pektay Fno, immer schon gewesen. Dass sie auch leidenschaftlich war, änderte nichts daran. Deswegen saß sie jetzt nackt auf ihrem Bett und versuchte zu analysieren, was letzte Nacht passiert war. Sie war ausgezogen, einen Jüngling zu verführen, und jetzt war ihr etwas in die ausgebreiteten Hände gefallen, von dem sie nicht wusste, ob sie es haben wollte.
Ein Teil von ihr wünschte, sie hätte auf den jungen Sar gehört, der sie vielleicht warnen hatte wollen. Oder auch nicht. Ein wenig hatte sie das Gefühl, dass sie nicht so recht wusste, wem sie da gestern Abend begegnet war, doch gewiss nicht dem leichtherzigen, blitzeäugigen Glanzjungen, als den sie Ftonim Sar kennen und ein klein wenig lieben gelernt hatte. Genug jedenfalls, um ihn mehr als einmal in ihr Bett zu lassen. Und was sollte sie nun mit dem jungen Nordler anfangen, den Ftonim so krallenbewehrt gehütet hatte wie ein Frn-Weibchen ein Nest voller Neugeborener? Wusste Ftonim es, dieses Geheimnis, das sie alle verbrennen konnte?
Pektay schürzte die Lippen. Das Herz hämmerte ihr zwischen den Rippen, und sie mochte das Gefühl nicht. Es bedeutete nie etwas Gutes. Ihr Blick glitt langsam von der Wurffalte der cremefarbenen Decke aus empor und wurde eingefangen von schläfrig geöffneten Augen, die dieselbe Farbe hatten wie das silbrige Halblicht vor ihrem Fenster. Pektay spürte, wie sie rot wurde. Sie hatte noch nie ein Problem mit Nacktheit gehabt, aber unter diesem Blick fühlte sie sich auf eine völlig ungekannte Art und Weise entblößt.
»Habe ich dir tatsächlich erzählt, was ich glaube, dass ich dir erzählt habe?«, fragte er. Seine Stimme war rau, aber ansonsten machte er nicht den Eindruck eines Mannes, der die Mengen an Alkohol konsumiert hatte, wie er es letzte Nacht getan hatte. Wie ungerecht.
»Mhm«, antwortete sie unverbindlich.
Er richtete sich ein wenig auf und stützte den Kopf in die rechte Hand. Die Decke rutschte noch ein Stückchen weiter. Pektay hatte ein wenig Schwierigkeiten, den Augenkontakt aufrechtzuerhalten, von dem sie wusste, dass sie ihn nicht brechen durfte.
»Warum bist du dann noch hier?«, fragte er ruhig.
»Das hier ist mein Haus«, wandte sie sachlich ein. Ihre Wohnung, genauer gesagt, die über ihrer Buchhandlung im Herzen der singisischen Hauptstadt lag. Ihre Stadt, ihre Wohnung, ihr Bett. Er war ein Fremder hier – in so vieler Hin