: Franz Hohler
: Der Enkeltrick Erzählungen
: Luchterhand Literaturverlag
: 9783641280024
: 1
: CHF 8.00
:
: Erzählende Literatur
: German
: 160
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Nirgends kommt das Fantastische so beiläufig daher wie bei Franz Hohler. Seine Erzählungen handeln von merkwürdigen Begebenheiten und dem plötzlichen Einbruch des Wunderbaren: Von einem geheimnisvollen Steinregen, der das Personal eines einsamen Alpenhotels in die Flucht schlägt. Von einem Tisch in einem beliebten Ausflugslokal, der großes Unglück bringt. Von einem jähen Moment der Wahrheit im Telefonat zwischen Mutter und Tochter. Vom nächtlichen Gesang einer Nachtigall, der die Menschen einer Kleinstadt elektrisiert. Und von einem Enkeltrick, durch den die betagte Amalie Ott noch einmal auf eine weite Reise geht...

Es sind die unscheinbaren Risse im alltäglichen Gefüge, von denen Franz Hohler so meisterhaft pointiert und abgründig erzählt - jede Geschichte ein kleines Wunder, das den Blick auf das Leben reicher macht.

Franz Hohler wurde 1943 in Biel, Schweiz, geboren. Er lebt heute in Zürich und gilt als einer der bedeutendsten Erzähler seines Landes. Hohler ist mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet worden, unter anderem mit dem Alice-Salomon-Preis und dem Johann-Peter-Hebel-Preis. Sein Werk erscheint seit über fünfzig Jahren im Luchterhand Literaturverlag.

Der Enkeltrick


Die Frau, die vor der Wohnungstür stand, war eindeutig nicht die Postbotin, obwohl sie zweimal geklingelt hatte. Die Postbotin hatte blondes Haar, das zu einem Pferdeschwanz gebunden war, und die hier hatte krauses schwarzes Haar und dunkle Augen. Auch trug sie keine blaue Uniform, sondern eine rote Bluse und eine schwarze Lederjacke. »Frau Ott?« fragte sie und lächelte.

Amalie Ott nickte. Sie musste zwar ab und zu mit Momenten kämpfen, in denen sie nicht mehr sicher war, wo sie gerade stand oder wohin sie gehen wollte und ob heute wirklich Sonntag war, wenn sie eine geschlossene Kirchentür vorfand, aber mit 88 Jahren sei so etwas nicht ungewöhnlich, hatte ihr der Hausarzt gesagt, und wichtig sei einfach, dass sie immer ihre Adresse bei sich trage, wenn sie das Haus verlasse.

Doch jetzt stand sie bloß an der Wohnungstür und nickte, denn soviel stand fest, siewar Amalie Ott.

»Was wünschen Sie?« fragte sie die fremde Frau.

»Darf ich einen Moment hereinkommen?« fragte diese, »es ist vertraulich.«

Amalie schloss kurz die Augen und sah ihre zwei Töchter mit ihren Männern und ihren Groß- und Urgroßkindern, und sie riefen ihr im Chor zu: »Keine Fremden hereinlassen!«

Als sie die Augen wieder öffnete, stand die Frau in der roten Bluse immer noch da und schaute sie lächelnd an.

»Bitte«, sagte Amalie, »kommen Sie herein.«

»Das ist lieb von Ihnen«, sagte die Fremde, die bereits einen Fuß auf der Schwelle hatte.

»Wir gehen in die Küche«, sagte Amalie und ging vor der Frau her durch einen schwach beleuchteten Korridor in die Küche. Auf dem Tisch war ein Teller mit einem halb gegessenen Stück Butterbrot mit Marmelade und einer Tasse, dahinter ein Glas mit Nescafé-Pulver.

»Setzen Sie sich«, sagte Amalie und wies auf den zweiten Stuhl, »ich bin spät dran mit dem Frühstück, möchten Sie auch einen Kaffee?«

»Danke«, sagte die kraushaarige Frau, »ich habe nicht viel Zeit. Ich bringe Ihnen eine Nachricht von Ihrer Enkelin.«

Wieder schloss Amalie kurz die Augen, und wieder sah sie den kleinen Familienchor. Fünf Enkel waren dabei, drei hochgeschossene junge Männer von der ersten Tochter, zwei mit ihren Frauen und zwei Urenkel, ein etwas kleinerer Mann von der zweiten Tochter, und da stand rechts außen noch eine junge Frau, etwa dreißigjährig, mit einer Stupsnase und einem Bubikopf, die ihr zuwinkte.

»Von Cornelia?« fragte Amalie, als sie die Augen wieder öffnete.

»Ja, von Cornelia«, sagte die Frau.

»Was ist mit ihr«?

»Sie ist in Not.«

Und die Fremde erzählte nun, dass Cornelia auf einer Reise in Rom verhaftet worden sei, weil sie für einen Freund ein Päcklein mitgenommen habe, in dem Drogen versteckt waren, natürlich habe sie das nicht gewusst, Cornelia hätte so etwas nie gemacht, aber jetzt sei sie im Gefängnis und käme nur gegen eine Ka