: Franz Hohler
: Das Kurze. Das Einfache. Das Kindliche.
: Luchterhand Literaturverlag
: 9783641051051
: 1
: CHF 8.00
:
: Essays, Feuilleton, Literaturkritik, Interviews
: German
: 192
: DRM
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
E ne unterhaltsame, abwechslungsreiche und anregende Reise in die poetische Welt Franz Hohlers
Franz Hohlers kurzweilige und anregende Essays führen uns in »Das Kurze«, »Das Einfache« und »Das Kindliche« ein; kaum etwas kennzeichnet Franz Hohlers erfolgreiches Werk besser als diese Kategorien. Sie sind die Grundpfeiler seines Schreibens, bilden den poetischen Kosmos seines Werks. Und wir begegnen vielen seiner Geschichten und seiner Lieblingsautoren wie Georg Büchner, Daniil Charms oder Franz Kafka auf eine überraschende Weise neu.

Franz Hohler wurde 1943 in Biel, Schweiz, geboren. Er lebt heute in Zürich und gilt als einer der bedeutendsten Erzähler seines Landes. Hohler ist mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet worden, unter anderem mit dem Alice-Salomon-Preis und dem Johann-Peter-Hebel-Preis. Sein Werk erscheint seit über fünfzig Jahren im Luchterhand Literaturverlag.
Das Kurze
Da ging einmal ein Mann ins Büro und traf unterwegs einen anderen, der soeben ein französisches Weißbrot gekauft hatte und sich auf dem Heimweg befand.
Das ist eigentlich alles.
 
»Begegnung« heißt diese kurze Geschichte des russischen Surrealisten Daniil Charms.
Was will sie von uns? Möchte sie uns ärgern? Wieso wagt sie es, als Geschichte aufzutreten? Sie hat uns ja kaum etwas zu erzählen, sie liegt sozusagen unter dem Gefrierpunkt des Erzählbaren.
Gerade deshalb gehört sie zu meinen Lieblingsgeschichten. Sie hält einen Moment des Lebens fest und behauptet, dass dieser Moment etwas Besonderes sei. Und von dieser Behauptung gehen wir alle aus, die schreiben, dass jeder Moment des Lebens etwas Besonderes ist, das der Beschreibung würdig ist, wenn wir ihn genau anschauen. Jeder Moment ist ein Ausschnitt aus einer längeren Geschichte, und jeder Moment ist, für sich genommen, eine kurze Geschichte.
Was also wäre das Besondere am Moment, den sich Charms ausgewählt hat? Er beschreibt eine kleine Alltagstragödie, die wir alle schon erlebt haben: einer muss zur Arbeit und trifft einen, der auf dem Heimweg ist, der also die Arbeit schon hinter sich hat. Das ist schon schlimm genug, aber der andere trägt mit seinem französischen Weißbrot auch noch ein Stück Vorfreude unter dem Arm, es kommt ein Genuss auf ihn zu, und er hat offenbar genug verdient, damit er sich ein französisches Weißbrot kaufen kann.
Dieses Bild sollen wir mitnehmen, wünscht sich der Dichter, dieses Bild ist eine Geschichte. Vielleicht kommt sie uns wieder in den Sinn, wenn wir selbst mit einer Baguette unter dem Arm die Bäckerei verlassen oder wenn wir leicht nervös mit Papier in den Händen einen Raum betreten, aus dem soeben zufrieden ein anderer herauskommt, der seine Papiere noch im Weggehen ordnet oder der sie ungeordnet in seine Mappe steckt. Eine Momentaufnahme ist es, und wenn ich selbst einer der beiden Männer bin, sagt sie mir entweder: »Jetzt bist du dran« oder »Du hast Glück, du kannst nach Hause«.
Die Zeitgenossen des Autors im Russland der Dreißigerjahre könnten die Geschichte auch anders gelesen haben, denn ich vermute, ein französisches Weißbrot sei nicht einfach zu bekommen gewesen; es könnte durchaus ein Zeichen dafür gewesen sein, dass zwischen den zweien ein unheilvoller Rang- und Privilegienunterschied bestand, und wenn wir uns das grausame Ende von Daniil Charms vergegenwärtigen, der mehr oder weniger im Gefängnis von St.Petersburg verhungert ist, bekommt das Weißbrot unter dem Arm des Höhergestellten etwas höhnisch Unerreichbares. Ein Rettungsboot gleitet am Ertrinkenden vorbei, ohne ihn aufzunehmen.
Ist das zu viel gesagt?
Nein, die Geschichte ist so kurz, dass sie uns zwingt, etwas dazu zu denken. Im Roman können wir immer die nächste Seite aufschlagen und uns vornehmen, am Ende darüber nachzusinnen, aber die kurze Geschichte lässt dies nicht zu. Sie will weitergedacht werden.