: Franz Hohler
: Es klopft Roman
: Luchterhand Literaturverlag
: 9783641039783
: 1
: CHF 7.20
:
: Erzählende Literatur
: German
: 224
: DRM
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Wie das Unerwartete das Leben beherrscht...
Das Leben hat es gut gemeint mit Manuel Ritter. Der erfolgreiche HNO-Spezialist ist glücklich verheiratet und Vater zweier Kinder. Bis sich eines Tages ausgerechnet bei ihm ein lästiger Tinnitus einstellt. Seitdem klopft es in seinem Ohr, und mit jedem Klopfgeräusch kommt die Erinnerung an einen längst vergangenen Fehltritt wieder, dessen Folgen ihn plötzlich einzuholen drohen.

Gerade hat der Hals-Nasen-Ohren Arzt Manuel Ritter nach einem Ärztekongress in seinem abfahrenden Zug Platz genommen, da klopft eine fremde Frau gegen das Fenster seines Abteils, als wolle sie ihm noch etwas Wichtiges sagen. Wenig später steht diese Fremde überraschend in seiner Praxis und hat einen unerhörten Wunsch, und Manuel Ritter kann sich, nachdem diese Frau wieder weg ist, fast nicht erklären, was mit ihm geschehen ist.
Über zwanzig Jahre sind seither vergangen, doch auf einmal wird das, was damals passierte, für Manuel Ritter wieder lebendig. Seit sein Sohn mit einer neuen Freundin zum ersten Mal bei ihm zu Besuch war, leidet er sogar unter zunehmend stärker werdenden Ängsten. Irgendetwas schwer zu Greifendes geschieht, denn die Freundin des Sohnes erinnert ihn auf eine merkwürdige Weise an die Frau von damals. Seitdem nimmt er in seinem Ohr Geräusche wahr, die außer ihm niemand hört: es klopft. Die alte Geschichte will ihn anscheinend nicht zur Ruhe kommen lassen.
Franz Hohler hat einen Roman voller Spannung und abgründiger Wendungen geschrieben. Sein Manuel Ritter verteidigt seine Biographie gegen alle Einbrüche des Unerwartbaren und Irrationalen. Er liebt das vermeintlich »normale« Leben und mag vor dem Unbekannten nicht kapitulieren. Dennoch üben die dunklen Kräfte des Lebens einen höchst verführerischen Sog auf ihn aus. Ein Sog, der auch den Leser von der ersten Seite an immer stärker in seinen Bann zieht.

Franz Hohler wurde 1943 in Biel, Schweiz, geboren. Er lebt heute in Zürich und gilt als einer der bedeutendsten Erzähler seines Landes. Hohler ist mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet worden, unter anderem mit dem Alice-Salomon-Preis und dem Johann-Peter-Hebel-Preis. Sein Werk erscheint seit über fünfzig Jahren im Luchterhand Literaturverlag.

"15 (S. 80-82)

Ein paar Tage später saß Manuel gegen 18 Uhr allein im Wartezimmer seines Kollegen, des Tinnitus-Spezialisten Anton Mannhart, und wunderte sichüber die Hässlichkeit dieses Raumes. Er hatte nichts gegen die Lithographien von Fritz Hug, dem Tiermaler, aber gleich drei davon kamen ihm alsÜberdosis vor. Die Störche, Rehe und Waldkäuze, so schön sie gezeichnet waren, wirkten seltsam unaktuell, wahrscheinlich hingen sie hier seit der Praxiseröffnung vor 25 oder 30 Jahren.

Die Sessel mit dem grünen Bezug irgendeines Lederimitats waren etwas zu speckig, und das Weiß der Wände hinter den Sesseln war auf Kopfhöhe leicht abgedunkelt. Auch dass der»Nebelspalter« noch existierte, der neben dem»Tagblatt der Stadt Zürich« und der Schwerhörigenpublikation»dezibel« auf dem Wartezimmertischchen lag, erstaunte ihn, er hatte diese Zeitschrift, die sich als satirisch ausgab, nie gemocht und hatte geglaubt, sie sei schon lange eingegangen. Seit er seine Praxis an den Zürichberg verlegt hatte, lagen bei ihm Zeitschriften wie»Schöner Wohnen«,»Animan« oder»Swissboat« auf den Regalen. Würde er, wenn er ihn nicht kennte, diesem Arzt trauen? Manuel nahm sich vor, sich morgen einmal wie ein Patient in sein eigenes Wartezimmer zu setzen. Sie unterschätzten wohl alle die Wichtigkeit dieses Eindrucks.

Auch dass jeder, der aus dem Sprechzimmer trat, am offenen Warteraum vorbeikam und sah, wer dort saß, fand Manuel unpassend, denn jetzt ging die Tür auf, und er hörte seinen Kollegen sagen:»Auf Wiedersehen, Herr Simonett.« Tatsächlich warf der Banker, der die Merkschrift»Tinnitus-Hilfe« in der Hand trug, im Abgehen einen Blick auf Manuel, grüßte ihn mit offensichtlichem Erstaunen und fragte ihn dann:»Haben Sie etwa auch eine Eisenbahn im Ohr?«»Nicht direkt«, sagte Manuel lächelnd undärgerte sich sogleichüber diese Antwort. Deutlicher, so schien ihm, hätte er nicht ausdrücken können, dass auch er als Patient hier war.»Grüß dich, Manuel.«»Hallo, Toni.« Sein Kollege Mannhart begrüßte ihn mit einem merkwürdig schwammigen Händedruck und bat ihn in sein Ordinationszimmer.

»Du hast ihn jedenfalls nicht entmutigt«, sagte Manuel, als sie drin waren, mit einer Kopfbewegung zur Türe hin,»er macht schon wieder Scherze.«»Wir müssen den Verlauf abwarten«, sagte Mannhart,»ich geb dir gelegentlich Bescheid. Und was ist denn mit dir?« Er war etwasälter als Manuel, knapp an der Pensionsgrenze, hatte gewelltes graues Haar und eine teilnahmsvolle Dauerfalteüber der Nasenwurzel.»Tja, was ist mit mir? Das wollte ich eigentlich dich fragen. Ich glaube, mich hat’s mit einem Tinnitus erwischt.«

Und dann schilderte er ihm seine Symptome, zeigte ihm auch sein Audiogramm, das die bewährte Frau Weibel mit ihm gemacht hatte, und sein spezialisierter Kollege stellte ihm viele der Fragen, die Manuel seinen Patienten auch stellte, seit wann, permanent oder von Zeit zu Zeit, nur nachts, auch tagsüber, in welchen Situationen, Veränderung bei anderer Haltung des Kopfes, Störungsgrad, schlafstörend, konzentrationsstörend, Hörsturz, Lärmtrauma, Lärmbelastung im Alltag usw.; er verharrte länger beim Punkt, ob die Schläge, wenn er sie höre, pulssynchron seien, so dass vielleicht eine Angiographie angezeigt wäre, doch die Schläge hatten nichts mit dem Puls zu tun, sie waren zu schnell, Manuel imitierte sie, indem er mit den Fingerknöcheln dreimal auf die Tischplatte schlug, sagte, nach der Qualität der Töne gefragt, es klinge aber eher etwas heller, so, als schlüge man gegen eine sehr dicke Fensterscheibe."