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Erst als ich begriffen hatte, dass wirklich alle die Hoffnung aufgegeben hatten, brach meine Welt zusammen.
Anfangs habe ich mich noch hartnäckig geweigert, das Schlimmste anzunehmen, und sämtliche Fakten, die ich im Internet gelesen habe, verdrängt.
Die ersten achtundvierzig Stunden sind die wichtigsten. Personen, die gekidnappt werden, werden zumeist zwischen dem ersten und dem dritten Tag getötet. Die Täter sind häufig innerhalb der Familie oder im Freundeskreis des Opfers zu finden.
Natürlich war das alles beängstigend, doch es zog mir nicht den Boden unter den Füßen weg. Ich war von der Vorstellung, dass wir Dani wiederfinden würden, geradezu besessen. Davon, dass sie eines Tages wieder auftauchen würde … mit irgendeiner Erklärung. Denn eine Erklärung musste es ja geben. Bei allem, was sie tat, verfolgte sie immer eine Absicht. In ihrem Leben gab es keine Zufälle. Sie würde plötzlich vor meiner Tür stehen und erklären, dass sie eine Zeit lang hatte verschwinden müssen – dass der Druck der Prüfungen einfach zu groß geworden war. Aber es waren nur noch wenige Tage bis zu unserem dreiundzwanzigsten Geburtstag. Es wirkte so grausam, so unwirklich, dass sie gerade zu diesem Zeitpunkt verschwinden sollte.
Dann aber, als sie verschollen blieb, begann ich zu glauben, dass eigentlich ich diejenige hätte sein sollen, die man hatte kidnappen wollen. Ich hatte mich selbst dermaßen in diesen Gedanken hineingesteigert, dass ich nachts wach lag und in die Dunkelheit flüsterte.Komm und hol mich. Bring Dani zurück. Du kannst mich haben, Hauptsache, du lässt sie frei. Ach, guter Gott, lass sie doch frei! Ich lag da auf meiner Bettdecke wie ein Opferlamm und flüsterte mich heiser. Manchmal hörte ich ein Rascheln von den Büschen draußen vor dem Fenster. Einmal sah ich auch den Schatten eines Mannes, wie er über den Rasen verschwand. Ich war überzeugt davon, dass der Täter draußen im Dunkeln lauerte, vielleicht auch schon in Danis Bett schlief und mich finden würde. Aber ihr Duft, der noch immer überall hing – in ihrem Kissen, dem Betttuch und in der Luft –, ließ mich nicht los, und Nacht für Nacht weinte ich mich in den Schlaf.
Als wir an diesem Abend zum Strand gegangen waren, hatte sie die Handtasche im Sommerhaus zurückgelassen. Immer wieder rief ich sie an und ließ es klingeln, bis ihre Mailbox übernahm. Einfach nur, um ihre Stimme zu hören. Und dann sah ich sie ganz deutlich vor mir stehen, das war wie ein Faustschlag in den Magen. Nirgendwo wurde ich die Gedanken an sie wieder los.
Wir, Alexandra und Daniella, waren zu Alex und Dani geworden, noch bevor wir zu sprechen lernten. Und ich bin froh, dass wir nicht auf solche Namen wie »Mondschein« oder »Raureif« getauft wurden. Zu unseren Eltern hätte das nämlich gepasst.
Als kleine Kinder sahen Dani und ich uns ganz ähnlich, so wie alle eineiigen Zwillinge. Aber unterschiedliche Charaktere hatten wir schon damals. Dani war ein braves Kind und gehorchte. Ich war ein Wildfang. Meine Mutter hat einmal gesagt, dass Danis erstes Wort »Danke« gewesen sei und meines »Nein«. So waren wir.
In der Teenagerzeit kamen unsere verschiedenen Persönlichkeiten noch deutlicher zum Vorschein – damals nämlich, als wir unsere Eltern verloren.
In den meisten Familien, in denen Kinder ihre Eltern verlieren, sind es tragische Umstände, die dazu führen. Ein schrecklicher Unfall, vielleicht auch Misshandlungen, Krebs oder eine andere schreckliche Krankheit.
Unsere Eltern allerdings haben uns verlassen, um in einer Sekte zu leben.
Wir haben ihre religiösen Ideen nie richtig ernst genommen, dieses Gefasel von einer Lehre, die zum ewigen Leben führen soll. Andachten, Handauflegen, New-Age-Gruppen, das Erstellen von Horoskopen und Séancen, all das haben wir in unserem Wohnzimmer erlebt. Urlaubsreisen an spirituelle Orte. Ihre manisch verzerrten Augen, wenn sie von Reinkarnati