1 Sanna Harmstorf
Wieder war sie bei den Toten. Sie befanden sich am Ende eines langen Flurs hinter einer Doppeltür aus Metall. Die Wände waren weiß gefliest, an der Decke flackerten Leuchtstoffröhren.
Sannas Schritte hallten vom Boden wider. Sie packte den Griff eines Türflügels und schwang ihn auf, obwohl sie wusste, was sie dahinter erwartete.
Auf dem Obduktionstisch lag der Körper eines Mannes. Eine lange Naht zog sich vom Schambein zum Kehlkopf, von wo aus zwei weitere Schnitte zu den Schultern führten, sodass sich die typische Form eines T ergab.
Der Rechtsmediziner hatte seine Arbeit beendet. Er stand neben der Leiche und zog sich die Handschuhe aus.
Sie näherte sich dem Obduktionstisch und betrachtete den Toten. Sein Gesicht war ihr fremd geworden. Das Leben war daraus verschwunden und mit ihm auch der Mensch, den sie kannte und den sie geliebt hatte.
Das halblange schwarze Haar hatte man ihm abrasiert. Ein Schnitt reichte von Ohr zu Ohr quer über den kahlen Schädel – oder das, was davon noch übrig war. Vom unteren Teil des Hinterkopfes fehlte ein ganzes Stück. Ein Loch mit Knochensplittern, Hautfetzen und verkrustetem Blut klaffte dort.
Der Rechtsmediziner nahm einen Metallstab und führte ihn in die Eintrittswunde in der Stirn des Mannes ein, deren Ränder unregelmäßig verbrannt waren.
Ein angesetzter Schuss, schräg von oben, sagte er.Vermutlich hat er vor seinem Mörder gekniet. Eine Hinrichtung.
Sie hörte seine Worte wie aus weiter Ferne, bestätigte sie nur mit einem Nicken. Ja, so musste es gewesen sein. Eine Hinrichtung. Ihr Blick wanderte zu den Handgelenken, wo Kabelbinder in die Haut eingeschnitten hatten.
Bei ihm ist es dasselbe. Der Rechtsmediziner deutete auf den benachbarten Obduktionstisch, auf dem ein zweiter Männerkörper lag, ebenfalls mit einem Einschussloch in der Stirn.
Erneut der Rechtsmediziner, der sich wieder dem ersten Toten zugewandt hatte:Was hatte er überhaupt dort zu suchen? Er muss doch gewusst haben, in welche Gefahr er sich begab.
Sie öffnete die Lippen einen Spalt weit, brachte aber keinen Ton heraus.
Sie. Sie selbst war der Grund. Höchstpersönlich hatte sie sein Todesurteil unterzeichnet.
In diesem Moment schlug der Tote die Augen auf und sah sie an. Seine Lippen formten eine Frage.
Warum?
Sanna Harmstorf schreckte aus dem Schlaf hoch und schnappte nach Luft. Das Herz raste in ihrer Brust. Sie spürte, wie Panik in ihr aufstieg und sich zu einer Angstattacke auszuweiten drohte. Ihre Kehle schnürte sich zu.
Sie setzte sich auf die Bettkante und zwang sich, kontrolliert zu atmen, so wie sie es gelernt hatte.
Es ist in Ordnung, Angst zu haben, sagte sie sich. Angst ist nur ein Gefühl von vielen. Jeder verspürt sie dann und wann. In dir ist nichts kaputt. Akzeptiere die Angst. Sie ist dein Freund, sie sagt dir, wenn etwas nicht stimmt. Finde heraus, warum du dich gerade jetzt fürchtest, frage dich, ob es wirklich angebracht ist. Nein? Dann nimm die Angst, schieb sie sachte