Teil eins
Suzanne
Kapitel1
Der Teppich war dick. Und teuer. So einer, bei dem Fußabdrücke im Flor zurückbleiben, wenn man drüberläuft. Seine Farbe war ein hauchzartes Grau, wie die Flügel einer Taube oder einer irisierenden Perle in einer Auster. Eine ziemlich unpraktische Farbe für ein Ladengeschäft. Ich hob den Blick zu den vielen Reihen mit Kleidern ringsum an den Wänden: weiß, champagnerfarben, elfenbein, cremeweiß. Es war ein wenig wie im Himmel, alles um mich herum war weiß oder hatte einen sehr hellen Pastellton. Und alles war makellos. Hier war kein Platz für Schmutz, Sand oder Straßenstaub. Nur für alle Fälle streifte ich meine Schuhe deutlich länger als sonst an der Kokosfußmatte ab.
Aus dem schwächer beleuchteten hinteren Teil des Ladens kam mir eine Frau entgegen. Sie war groß und dünn wie eine Häkelnadel und von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet. Selbst ihr Haar hatte die Farbe von Ebenholz, was bei ihrer hellen Haut kaum der Natur zu verdanken sein konnte. Sie trug es zu einem Dutt zurückgekämmt, der seinem Aussehen nach schmerzhaft sein musste und so akkurat frisiert war, als wäre er nicht mit Haarnadeln, sondern mit Sekundenkleber befestigt.
»Guten Tag, Suzanne«, begrüßte sie mich und streckte mir ihre Hand mit den langen, schlanken Fingern entgegen. »Schön, Sie wiederzusehen.«
Ich lächelte, vermutlich deutlich entspannter als vor einem halben Jahr bei meinem ersten Besuch hier bei Fleurs. Natürlich, denn damals hatte ich unter dem Druck gestanden, eine der wichtigsten Kaufentscheidungen meines Lebens zu treffen,und zudem noch ganz allein. Doch im Grunde war ich nicht wirklich allein gewesen, und wahrscheinlich hatte auch gar nicht ich die Entscheidung getroffen, denn Gwendoline Flowers, die etwas herrische Inhaberin von Fleurs Wedding Gowns, hatte quasi schon in dem Augenblick, als ich das Geschäft betrat, entschieden, welches Kleid ich erstehen sollte.
»Haben Sie heute Begleitung mitgebracht?«, fragte Gwendoline und schaute hinter mich, wo es eindeutig nichts zu sehen gab.
»Meine Mutter kommt noch, und Karen, meine beste Freundin«, sagte ich und sah auf meine Armbanduhr. »Ich bin wohl ein bisschen früh dran«, fügte ich entschuldigend hinzu, denn ich war eine gute Viertelstunde vor dem Termin hier. Das war nichts Besonderes. Meine Angst, mich – bei jedem denkbaren Anlass – zu verspäten, war eine Phobie, die sich jetzt, wo ich fast zweiunddreißig war, wohl nicht mehr von allein auswachsen würde.
»Besser zu früh als zu spät«, sagte Gwendoline mit einem schelmischen Augenzwinkern, und es fröstelte mich leicht beim Gedanken an eine törichte Braut, die es nicht schaffte, hier zu ihrem Termin pünktlich zu erscheinen. »Hauptsache, nicht bei der Hochzeit selbst – da sollten Sie ganz sicher nicht zu früh dran sein. Und treffen Sie aufkeinen Fall vor dem Bräutigam ein«, schob sie mit einem unheimlichen Hexengekicher hinterher. Hexen hatten in den prägenden Jahren meiner Kindheit eine wichtige Rolle gespielt. Genauso wie Drachen.
»Setzen Sie sich doch bitte, meine Liebe, während wir auf Ihre Entourage warten«, forderte Gwendoline mich auf, wobei sie wie die Dirigentin eines unsichtbaren Orchesters mit einer Armbewegung auf denselben Sessel mit Samtbezug deutete, auf dem ich hier bei meinem ersten Besuch vor einem halben Jahr Platz genommen hatte.
Wie damals setzte sich Gwendoline hinter den antiken Schreibtisch, und die Erinnerung an unsere erste Begegnung, bei der ich mich exakt wie in einem Bewerbungsgespräch gefühlt hatte, wurde wieder wach. Ich wusste, dass sie mir keinerlei Erfrischungen anbieten würde. In manchen Geschäften bekamen die Kundinnen ein Glas Champagner, während sie sich die Kleider zeigen ließen, doch im Fleurs waren Essen, Getränke, kleine Kinder und alles, was auf vier Beinen herumspazierte, tabu.
»Also nur noch drei Wochen bis zum großen Tag«, bemerkte Gwendoline mit einem Lächeln, das praktisch alle ihre