: Christine Dwyer Hickey
: Schmales Land Roman
: Unionsverlag
: 9783293311299
: 1
: CHF 20.90
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 416
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Es ist das Jahr 1950. Mit einem Comic-Heft und einem Schokoriegel in der Tasche kommt Michael, ein 10-jähriger deutscher Waisenjunge, in Amerika an. Ein Sommer am Meer in Cape Cod soll die Schrecken des Krieges verblassen lassen. Licht tanzt über die Dünen und ergießt sich über kanariengelbe Sonnenschirme, doch weder das noch die Familie, die ihn aufnimmt, lindern Michaels Verlorenheit. Erst durch die eigenwillige Mrs Aitch, eine Künstlerin, die im Schatten ihres berühmten Mannes an der Bucht lebt, öffnet sich ihm in der unvertrauten Idylle eine neue Welt. Mit kraftvollem Pinselstrich malt Christine Dwyer Hickey das leuchtende Porträt eines Sommers, einer Ehe und einer ungewöhnlichen Freundschaft - und fängt die Farben von Einsamkeit, Nähe und Momenten flüchtigen Glücks ein.

Christine Dwyer Hickey, geboren 1958 in Dublin, ist Autorin und Dramatikerin. Sie schreibt Romane, Kurzgeschichten und Theaterstücke, ihre Werke wurden in mehrere Sprachen übersetzt. Neben ihrer Tätigkeit als Schriftstellerin lehrt sie Kreatives Schreiben. Für ihre Romane war sie u. a. für den Orange Prize und den Prix L'Européen de Littérature nominiert, für Schmales Land wurde sie mit dem Walter Scott Prize und dem Dalkey Literary Award ausgezeichnet.

Kriegsbringer


1


Oben an der Treppe zum Bahnsteig will der Junge nicht weiter, und die Frau, die an ihm zerrt, zerrt noch mehr. Der Junge rebelliert, diesmal, indem er in die Hocke geht und sein ganzes Gewicht in die Fersen stemmt. Die Frau hält kurz inne, dann fährt sie herum.

»Was denn? Was ist denn jetzt wieder?Was?«

Sie dreht sich so schnell, dass ihr Korb am nackten Bein des Jungen entlangschrammt. Ein langer roter Striemen erscheint auf der Haut. Das Bein zuckt, der Junge aber gibt keinen Piep von sich. Er mustert das Bein, den Korb und zuletzt sie. Er entwindet sich seitlich und lässt den Griff seines Koffers los.

»Ich fahr nicht …«, beginnt er.

»Dufährst nicht? Was soll das heißen, du fährst nicht?«

»Ich mag nicht –«

»Du magst nicht? Was magst du denn jetzt nicht?«

Es ist nicht das erste Mal, dass sie genau hier Streit haben. Zum letzten Mal war das vor zwei Jahren, im Sommer 1948, als sie ihn kurz hatte stehen lassen, um am Schalter die Fahrkarten zu kaufen, und er weggelaufen war und mitten in der Halle des Grand Central den blanken braunen Koffer zurückließ, den Harry ihm extra gekauft hatte. Weit war er damals nicht gekommen. Er war noch nicht so gewieft, gleich den nächsten Ausgang zu suchen, und hatte noch zu viel Bammel vor Aufzügen, Rolltreppen, ja allem, was zu Unbekanntem oder Unüberschaubarem führte. Also war er einfach losgeflitzt und hatte Haken durchs Gedränge geschlagen. Kaum hatte sie sein Verschwinden gemeldet, da hatte der Cop ihn schon wieder eingefangen und zu ihr unter der Uhr mit den vier Gesichtern zurückgeschleift.

»Ihr Kind?«, fragte der Cop.

Und sie hatte genickt, weil sie nicht erst mit der ganzen leidigen Geschichte anfangen oder gar gegen sein Geflenne anschreien wollte.

Damals hatte sie die Beherrschung verloren, hatte dem Jungen eine geschmiert – das erste und einzige Mal, dass ihr das passierte –, hatte die Fahrtkarten in tausend Fetzen gerissen, ihm die Fitzel ins Gesicht geschleudert und ihn im Beisein des Cops angeherrscht: »Zufrieden? Hast du, was du willst? Da nehme ich mir einen ganzen Tag frei, um mit dir bis nach Boston im Zug mitzufahren. Einen ganzen Tag, an dem ich dann allein wieder zurückmuss, und so dankst du mir das. Na, dann schmor du meinetwegen den Rest des Sommers daheim in der Wohnung, in der Backofenglut! Wie du willst&