: Martina Clavadetscher
: Vor aller Augen
: Unionsverlag
: 9783293311435
: 1
: CHF 11.60
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 240
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Das Mädchen mit dem Perlenohrgehänge, die Dame mit dem Hermelin, Frauen auf weltberühmten Gemälden von Leonardo da Vinci, Vermeer, Rembrandt, Courbet, Schiele, Munch. Wir sehen ihre Körper, ihre Blicke, ihre Kleidung, gebannt oder verbannt in einen ewigen Augenblick. Doch wer waren sie außerhalb dieses Moments? Martina Clavadetscher ist den Hinweisen ihrer Leben nachgegangen, lässt die Frauen erzählen und gibt ihnen so eine Stimme zurück. »Ohne diese Frauen, gäbe es kein Staunen, kein Schauen - mehr noch, ohne diese Frauen wäre die Kunstgeschichte, so wie wir sie heute kennen, undenkbar. Diese Frauen waren immer auch Mitarbeiterinnen, Künstlerinnen, Unterstützerinnen, Auslöser, ein Spiegel der Zeit, Ikonen, Inspiration, Partnerinnen, Retterinnen.« Martina Clavadetscher

Martina Clavadetscher, geboren 1979, ist Schriftstellerin und Dramatikerin. Nach ihrem Studium der Deutschen Literatur, Linguistik und Philosophie arbeitete sie für diverse deutschsprachige Theater, gewann den Essener Autorenpreis und war für den Heidelberger Stückemarkt nominiert. Für ihren Roman Die Erfindung des Ungehorsams erhielt sie 2021 den Schweizer Buchpreis. Sie lebt in der Schweiz.

Basta! Es wurde genug geschaut!

Manchmal möchte ich es am liebsten in den gedimmten Saal, über das Parkett und direkt in ihre jungen Gesichter schreien:

Es ist sowieso zu spät, um mich lebendig zu sehen!

Auch wenn sie sich bei ihren Empfängen und Führungen gerne recht geben, wie wahr es doch sei, ja, wirklich:

Diese Frau reicht tatsächlich aus, um zu verstehen,

was Natur ist, was Kunst ist.

Ein schöner Satz.

Leider nicht von mir. Ein anderer Poet, ein Mann,sagte ihn, unser Hofdichter Bernardo Bellincioni, derdamals in Mailand gerne mit seinen überzuckerten Versen um sich warf. Aber Bernardo hatte gut reden. Er musste ja nicht ewig zuhören, so wie ich mir hier bis heute das ganze Geflüster antun muss,

er wurde gehört, er wird sogar noch gelesen.

Doch bei mir steht nur noch das Äußere zur Debatte.

Ich muss meine Poesie über mein Aussehen in die Welt schmuggeln.

Meine geschriebenen Worte hat niemand aufbewahrt.

Die vielen Werke, alle meine schönen Gedanken.

Die Verse verbrannten wohl irgendwo

in einem Feuer am Flussufer in Cremona,

verpufften in den Wolken über der Lombardei

und regneten vor Genua ins Mittelmeer.

Was für eine Verschwendung!

Cecilia Galleranis Worte wurden hinter diesen Farben zum Schweigen gebracht.

Und selbst dieses stille Äußere will nicht richtig halten.

Ich habe an Kolorit verloren.

Meine Umgebung wurde retuschiert,

übermalt mit Schwarz,

als hätte die Finsternis der vergangenen Zeiten auf mein Umfeld abgefärbt.

Es hieß, ich wurde nachgebessert.

Als hätte ich Nachbesserung nötig,

als hätte ich überhaupt eine Verbesserung nötig,

aber die Besserwisser in Polen verdunkelten meineKorallenkette mit winzigen Schatten, schwächten die feinen Verzierungen des Kleides mit plumpen Strichen.

Die Wangen wurden rosa gepudert,

das weiche Sfumato weggepinselt,

Nase, Augenbrauen, Haare nachgezogen –

und als Höhepunkt haben sie mich sogar falsch benannt:

La Belle Ferronière, eine Frechheit!

Ich wünschte, ich könnte sie alle taub schreien in diesem hoch bewachten Raum:

Das ist die falsche Geliebte eines ganz anderen Liebhabers!

Aber wie ein bedrohliches Schwert schwebt dieser fremde Name nun über meinem Hinterkopf, ein Hohn kreist über Galleranis Haupt – es ist zum Wegrennen!

Doch selbst den blaugrünen Schlupfwinkel in meinem Rücken haben sie mir vor vierhundert Jahren genommen.

Die Pfuscher haben jeden Fluchtweg

mit einer dicken Wand aus Schwarz versperrt.

Aus dem Rahmen zu fallen, bleibt sowieso ein Traum.

Also sitze ich hier, verharre in der Geschichte

zwischen Schichten aus Öl und Tempera,

erdenke mir stattdessen Gedankengänge,

lege mir Gedichte und Sätze zurecht,

wie ich sie mir auch zu Lebzeiten,

als angesehene Poetin in Mailand,

zurechtgelegt habe.

Wort um Wort spaziere ich

durch philosophische Leitsätze,

Thesen, Theorien, Zeilen,

die zum Teilen mit den Gelehrten

auf meiner Zunge bereitliegen,

jahrhundertelang schon warten,

doch unausgesprochen vertrocknen.

Das kluge Raunen und Rauschen am Mailänder Hofist längst verstummt.

Seither muss ich stillhalten.

Als wären die Sitzungen bei Leonardo nicht bereits der Inbegriff der Langeweile gewesen.

Ein stundenlanges Verharren war es,

das Ludovic dain Auftrag gegeben hatte.

AberIl moro wusste eben, wie er seine Auserwähltenhaben wollte:

Die Geliebte sollte warten und schweigen.

Also wartete ich und schwieg. Und wurde dafür belohnt.

Dieser bärtige Maler war ein durchaus gescheiter Kopf, obwohl er in seinem Notizbuch nur Kriegsmaschinen zeichnete und ansonsten vor allem die riesige bronzene Reiterstatue von Francesco Sforza im Sinn hatte, die er dann doch nie umsetzte, und zwischen diesen großen Männerträumen sollte er klein und fein noch mich erfassen. Und ich sollte den Blick wie befohlen abwenden.

Cecilia, Teuerste, schauen Sie zum Unsichtbaren, zum Dritten, zum Geheimnis,

nuschelte Leonardo mir entgegen und ergänzte, jeder und jede sehe doch sowieso, dass ich weitaus mehr wisse, von Anfang an mehr wusste, als die meisten da draußen wussten.

Es stimmte.

Ich weiß auch jetzt noch wesentlich mehr, als die Besserwisser heute herleiten und analysieren,

was sie in ihren Seminaren und Tagungen verhandeln.

Ich weiß haargenau, wie es dazu kam, dass ich hierposierend sitze.

Ich weiß, wie es dazu kam, dass zu jenem Zeitpunkt

in meinem Bauch bereits die Mutterbänder zogen,

weiß, dass sie eine innere Ahnung zur Gewissheitdehnten.

Das erste Geschenk des Fürsten Ludovico Sforza wuchs im Verborgenen.

Mein Kleid über dem Fleisch

verbarg das Keimende doppelt,

und der Arm schirmte dieses Doppelte

nochmalsschirmend ab,

während das weiße Tier uns mehrfach schützte,

als lebendiges Kissen und als Schutzpatron zugleich,

mich und mein inneres Glück,

genannt Frucht, genannt Kind, genannt Cesare,

dieser verletzliche Wurm,Il moros Kind, ein Junge,

der wie das Hermelin plötzlich

auf der Bildfläche,

unter der Bildfläche

erschien

und einem Wachstumsprozess folgte.

Wie fremdbestimmte Schöpfungen

entstanden Bild und Leben gleichermaßen,

alles war ungeboren zuerst, unfertig,

mit leeren Armen saß ich da,

bis das Leben erschien, eingehaucht,

dem Hermelin, Cesare, mir,

im Sommerfell zuerst, danach im Winterpelz,

dicker, weißer, alles wurde sichtbarer,

und so wuchs das Bild wie das Leben in mir.

Doch das Gemälde lebte sich aus meiner Zeit heraus.

Obwohl es in seiner obersten Schicht

verharrte und verhärtete,

diese letzte Farbschicht,

die seither kunstvoll verdeckt,

was darunterliegt.

Vorbei und vergessen,

würde man denken oder hoffen,

aber in letzter Zeit blicken die Schauenden

immer öfters unter die Farbdecke.

Gieren gnadenlos nach meinem viel jüngeren Ich,

glotzen unter die sichtbaren Schichten,

verlangen eine Entblößung sondergleichen.

Aber diese Schicht der Geschichte gehört mir allein!

Die Zeit hat sie mir geschenkt.

Genau wie das Gemälde mir gehört.

Der Fürst, mein Ludovico, hat es mir überlassen,

das zweite Geschenk des Fürsten,

das zweitwichtigste, das ich mit mir nahm,

als die Berater mich bestimmt vom Hof wegbaten,

eine Bitte, die natürlich ein Befehl war,

als sie mich in den Palazzo Carmagnola verfrachteten,

als sie mich schließlich sogar aus Mailand wegforderten.

Eine Forderung, die natürlich von Beatrice kam,

der neuen Frau des Fürsten, die offizielle, versteht sich,

die nach der Hochzeit das Sagen haben wollte,

und deswegen hartnäckig und deutlich sagte,

ich solle mich gefälligst noch weiter entfernen.

Also packte ich meine Sachen,

nahm Ludovics erstes Geschenk,

nahm sein zweites Geschenk,

nahm mein Baby und nahm mein Bild,

nahm Cesare, nahm das Hermelin,

nahm mich selbst, Cecilia Gallerani,

die Poetin und Philosophin,

und all meine Schätze mit nach Cremona,

wo ich alle überlebte, bis ich starb.

Doch keine Reise ist je ganz zu Ende.

Nicht solange die Nachkommenden deinem Weg nachgehen wollen.

Ganze Generationen von Neugierigen wollten uns nicht in Ruhe lassen.

Sie folgten und fanden und hielten uns wie die Tiere.

Die Ortschaften sind eine Liste der Erschöpfung.

Wir flohen vor der Novemberrevolution

in einer Kiste von Puławy nach Paris ins Hôtel Lambert,

wurden von dort nach Krakau expediert,

später nach Berlin verschleppt,

dann zurück nach Krakau,

und nach einem kurzen Aufenthalt in Bayern

landeten wir schließlich wieder in...