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Der viel zu rasche Beginn des Frühlings brachte nicht nur den Kreislauf mancher Bürger des Königlich Bayerischen Staatsbads Reichenhall durcheinander, sondern auch die Natur. Alles befand sich im Umbruch. Warme Winde ließen den Schnee flugs dahinschmelzen, sogar an den Schattenhängen der Berge, wo er sich sonst oft bis nach Ostern hielt. Palmkätzchen übertupften die Weidenbäume mit ihren flauschigen Knospen und lockten Bienen und Hummeln mit der Verheißung von frischer Nahrung an. Ein weiß-blauer Bilderbuchhimmel spannte sich über Wiesen und Felder, für den Johann Gmeiner in diesem Moment kein Auge hatte.
»Anna!«, rief er vom Ufer der Saalach in Richtung des kleinen Hauses, in dem er mit Tochter und Sohn lebte. »Sie kommen! Beeil dich, das Wasser fließt schnell heute, sonst sind sie durch!«
Drinnen rannte Anna Gmeiner die Treppe zu ihrer Kammer hinauf und knöpfte dabei ihr Kleid auf. Hastig schob sie es von den Schultern, ließ es zu Boden fallen und griff nach Hose und Hemd. Ein knöchellanger Rock aus Wollstoff würde sie im Fluss hinunterziehen wie Blei. Für das, was sie vorhatte, war es besser, Männerkleidu