: Inès Bayard
: Steglitz Roman
: Paul Zsolnay Verlag
: 9783552073722
: 1
: CHF 15.20
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 192
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Inès Bayards neuer Roman über eine Frau, deren Welt aus den Fugen gerät - mitten in Berlin Steglitz
Leni Müller lebt an der Seite ihres Architekten-Mannes in Berlin ein Leben ohne Ziele und Träume. Als Kommissar Ziegler bei den Müllers auftaucht, um sie - zumindest behauptet er das - als Zeugen für einen Schusswechsel im Kiez zu befragen, gerät Lenis Welt komplett außer Kontrolle. Die Männer zwingen sie auf die Straße. Leni entwickelt ein Eigenleben.
Nach ihrem vielbeachteten Debütroman 'Scham' legt Inès Bayard einen spannenden psychologischen Roman vor über eine Frau, die ihre Vergangenheit nicht länger verdrängen kann. Ein literarisches Meisterwerk, bei dem man nicht eine Sekunde lang ahnt, wohin der Weg an Lenis Seite noch führen wird ...

Inès Bayard wurde 1992 in Toulouse geboren, sie lebt jetzt in Berlin. Ihr Debütroman Scham (2020) wurde in mehrere Sprachen übersetzt und mit dem Prix Fnac und dem Prix Goncourt des Lycéens ausgezeichnet. Zudem stand er auf der Longlist für den Prix Goncourt 2018.

1


Leni Müller lebte mit ihrem Mann Ivan Müller im obersten Stock eines Wohnhauses in der Markelstraße. Als Leni an diesem Morgen die Schlafzimmervorhänge aufzog, freute sie sich über den Schnee. Ein weißer, tiefhängender Himmel. Der Dezember in Berlin hatte gerade erst begonnen. Die Leute hatten schon den Weihnachtsschmuck an ihren Balkonen aufgehängt. Unten an der Straße klaubten die Schulkinder den Pulverschnee von den Windschutzscheiben der Autos, formten große Bälle und bewarfen ihre Eltern damit. Das Gelächter hallte durch die Fenster der Wohnung.

Leni stand immer später auf als ihr Mann, gegen acht Uhr. Sie kochte Kaffee und brachte ihm eine Tasse ins Wohnzimmer, während er dieWelt las. Er saß aufrecht im Sessel und blätterte verärgert die Seiten um. Wenn ihn seine Gattin fragte, worüber er sich so aufregte, erwiderte er schroff: »Die Welt ärgert mich.« Mehr sagte er nie. Im Übrigen unterhielten sich die Eheleute im Laufe des Tages ohnehin nur sehr selten und auch abends kaum mehr. Ivan dachte, dass es so am besten sei. Er wiederholte gern, dass Schweigen immer besser sei als unnötige Worte, mit denen es die meisten Paare übertrieben. Leni machte das gar nichts aus, ganz im Gegenteil. Sie schätzte es umso mehr, sich zu äußern, wenn sie es für unumgänglich hielt.

Der Stadtteil Steglitz, in dem sich die Wohnung befand, hatte einige Besonderheiten zu bieten. Auf der einen Seite gab es die Schloßstraße, eine vielbesuchte Einkaufsmeile. Hunderte Geschäfte und drei Einkaufszentren nahmen jeden Tag die dichtgedrängte Menschenmenge auf, die vom Walther-Schreiber-Platz zur U-Bahn-Station Rathaus Steglitz strömte. Man musste jedoch nur von der Schloßstraße rechts oder links in die erstbeste Straße einbiegen, schon fand man sich in einem ruhigen, unauffälligen Wohnviertel wieder. Die Büroräume in der Französischen Straße, in denen Lenis Mann arbeitete, waren wegen Renovierungsarbeiten geschlossen. In den letzten Monaten hatte Ivan Müller seinen Beruf als Architekt in einem Zimmer der Wohnung ausgeübt, in dem er auch seine Modelle zu entwerfen pflegte. Gegen zehn Uhr morgens setzte er sich an die Arbeit, während Leni hinunterging und sich um die Pflanzen im Vorgarten ihres Hauses kümmerte. Wenn die Nachbarn sie dort hocken sahen, die Hände voller gefrorener Erde, blieben sie stehen und erteilten ihr Ratschläge. »Wie kommen Sie denn darauf, bei diesem Schnee im Garten zu arbeiten!«, brachte einer vor, während er sich vor dem Drahtzaun hinpflanzte. »Mit diesen Handschuhen kommen Sie aber nicht weit!«, sagte ein anderer. Leni reagierte immer mit einem freundlichen Nicken, ließ sich aber nie auf eine Diskussion ein. Also gingen sie wieder und wünschten ihr einen schönen Tag, zufrieden oder manchmal auch verärgert über ihr Schweigen, das man für Herablassung hätte halten können. So verging der Vormittag. Später, nachdem sie sich gewaschen hatte, blieb Leni im Wohnzimmer. Sie saß am großen weißen Fenster und sah zu, wie der Schnee ihre Balkonblumen bestäubte.

Das Telefon im Flur klingelte schon seit ein paar Minuten. Die Anrufe waren nie für sie, und ihr Mann nahm den Hörer nur ab, wenn er Lust dazu hatte. Auf dem Couchtisch lagen noch die zerknüllten Blätter derWelt. Sie beäugte von weitem die erste Seite, als hätte sie Angst, sich ihr zu stellen. Es war die Fotografie eines Kinds. Gekleidet in einen roten Wollpullover, das Gesicht vom Weinen verzerrt, hielt es den Kopf in den Händen, als würde er sich jeden Moment vom Körper lösen. Hinter ihm war ein älteres Kind im Profil zu sehen, das ebenfalls weinte. Dahinter wiederum trug ein Mann im schwarzen Ledermantel ein drittes Kind auf dem Arm. Alle vier sahen aus, als wollten sie einer Gefahr entfliehen, einem Krieg wahrscheinlich. Leni starrte das Bild einen Moment lang an, dann senkte sie den Blick auf ihre Uhr. Halb eins. Sie ging durch das Wohnzimmer in die Küche und holte die Einkaufstasche aus der Abstellkammer. Als sie an Ivans Arbeitszimmer vorbeikam, hörte sie ihn am Telefon sprechen.

Leni ging für gewöhnlich zum Einkaufszentrum Boulevard Berlin, das einige Meter von der U-Bahn-Station Schloßstraße der Linie U9 entfernt war. Um zum Eingang von Karstadt zu kommen, musste sie nur der Straße folgen. Eingemummelt in ihren Mantel trat sie vor die Tür. Es schneite nicht mehr. Die Gehwege waren jetzt mit schwarzem Matsch bedeckt, der an den Schuhsohlen klebte und nach brackigem Wasser roch. Von ihrem Haus aus sah sie schon die vor Menschen wimmelnde Straße. Sie ging am dekorierten Schaufenster eines Luftballongeschäfts vorbei, und als sie die Kreuzung an der Schloßstraße erreichte, schlug ihr der würzige Geruch vom Schloss-Döner entgegen. Im Kaufhaus dann durchquerte sie die Kosmetik- und Schmuckwarenabteilung, wo sie von einem Mann im Anzug angerempelt wurde, der es nicht einmal bemerkte, bis sie endlich die Ladengalerie erreichte. Die wabenförmige Decke mit den großen Glasscheiben schien kein Licht durchzulassen. Die Dekoration und die Neonlichter reichten aus, um das Tageslicht zu ersetzen. Leni steuerte auf den Supermarkt zu, der eine Etage tiefer lag und in dem sie jedes Regal wie ihre Westentasche kannte. An der Kasse murmelte sie einen kurzen Gruß, verstaute ihre Einkäufe in der Tasche, zahlte, nahm den Beleg entgegen und wünschte der Kassiererin im Gehen einen schönen Tag. Zufrieden ging sie auf direktem Weg nach Hause.

Als sie die Tür öffnete, hörte sie Stimmen. Mitten im Wohnzimmer stand Ivan im Gespräch mit einem anderen Mann, der ein Notizbuch in der Hand hielt. Er war um die fünfzig, und oben auf seinem Schädel zeigte sich eine Glatze, die notdürftig von ein paar spärlichen graumelierten Haaren verdeckt wurde. Ein dicker schwarzer Parka verlieh seiner Gestalt seltsame Proportionen. Durch seine schwarze Hose erahnte man die mageren Beine, die aussahen, als wären sie bis auf die Knochen abgehobelt. Als Leni das Zimmer betrat, wandte der Mann sich sofort zu ihr um und musterte sie schweigend. Dann drehte sich auch Ivan um.

»Meine Frau, Leni«, sagte er, bevor er seine vorherige Haltung wieder einnahm.

»Guten Tag«, grüßte sie der Mann herzlich, wobei er die Lippen kräuselte.

Leni nickte, ohne ihm in die Augen zu sehen. Als sie im Begriff war, das Wohnzimmer zu verlassen, rief der Mann sie zurück und ging einige Schritte auf sie zu.

»Polizeioberkommissar Ziegler«, sagte er und hielt ihr seine Dienstmarke hin.

Leni starrte besorgt ihren Mann an.

»Machen Sie sich keine Sorgen«, fügte Ziegler lächelnd hinzu. »Es handelt sich nur um eine Anwohnerbefragung.«

»Meine Frau ist nicht besonders redselig, Herr Oberkommissar«, erklärte Ivan.

»Verstehe«, erwiderte dieser. »Aber vielleicht hat sie ja gestern Abend etwas gehört?«

»Wenn das der Fall wäre, hätte sie mir davon erzählt, das kann ich Ihnen versichern.«

Ziegler ließ Leni nicht aus den Augen. Sie schwieg weiterhin, dann fragte sie ihren Ehemann, ob sie sich in die Küche zurückziehen könne, worin er einwilligte. Der Oberkommissar sah ihr eine Weile hinterher, dann wandte er sich wieder Ivan zu.

»In der Tat, nicht sehr redselig …«

»Haben Sie noch weitere Fragen?«, erkundigte sich Ivan.

»Im Augenblick nicht. Wenn Ihnen noch etwas einfallen sollte, haben Sie ja meine Nummer.«

»Ich begleite Sie noch zur Tür.«

»Machen Sie sich nur keine Umstände.«

Die beiden Männer gaben sich die Hand, und Ivan Müller kehrte in sein Arbeitszimmer zurück. Der Oberkommissar durchquerte das Wohnzimmer und trat in den Gang, hielt jedoch abrupt inne, als er vom anderen Ende her leise Lenis Stimme hörte. Es klang wie ein Summen. Vorsichtig warf Ziegler einen flüchtigen Blick ins Wohnzimmer, um sicherzugehen, dass er nicht beobachtet wurde, dann ging er aufmerksam lauschend den Gang hinunter. Auf der Schwelle zur Küche sah er Leni, die mit dem Rücken zu ihm stand und damit beschäftigt war, Gemüse zu schneiden. Neben ihr spielte ein altes Radio eine klassische Sinfonie, deren Melodie sie gut zu kennen schien. Ziegler tat so, als räusperte er sich, damit sie sich umdrehte, aber vergeblich. Leni verharrte in derselben Position. Von der Tür aus konnte er jedoch sehen, wie sie nach links schielte, um sich seiner Anwesenheit zu versichern.

»Schöne Musik«, bemerkte Ziegler. »Was ist das?«

»Schubert.«

Ziegler ging ein paar Schritte auf sie zu.

...