: Paul Krisai, Miriam Beller
: Russland von innen Leben in Zeiten des Krieges
: Paul Zsolnay Verlag
: 9783552073821
: 1
: CHF 16.10
:
: Politik
: German
: 192
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Die ORF-Korrespondent:innen Paul Krisai und Miriam Beller über das Leben in Russland während des Angriffskrieges
Seit dem Morgen des 24. Februar 2022 ist nichts mehr wie zuvor: An diesem Tag erklärt Wladimir Putin der Ukraine den Krieg und verbietet kurz darauf per Gesetz jegliche Kritik an der 'militärischen Spezialoperation'. Paul Krisai und Miriam Beller setzen trotz der Zensurmaßnahmen ihre Berichterstattung aus Moskau fort. Sie interviewen inhaftierte Oppositionspolitiker per Gefängnispost, sprechen mit gestrandeten ukrainischen Flüchtlingen, reisen Tausende Kilometer durch Russland, Georgien, Belarus und Kasachstan, um zu verstehen, wie grundlegend der Krieg das Land und seine Nachbarschaft verändert. Wie wirken sich die Sanktionen des Westens aus? Was machen Unterdrückung und Überwachung mit einer Gesellschaft? Und wie berichtet man unter Zensur? Krisai und Beller erzählen vom Leben in einem Aggressorstaat, der zur Bedrohung Europas geworden ist.

Paul Krisai wurde 1994 in Mödling bei Wien geboren und studierte Journalismus in Graz und Sankt Petersburg. Seit 2019 ist er Korrespondent im ORF-Büro Moskau, das er seit 2021 leitet. 2022 wurde er mit dem Robert-Hochner-Sonderpreis ausgezeichnet und zu Österreichs Journalisten des Jahres gewählt.

Der Krieg beginnt, und nichts ist wie zuvor


Paul Krisai

Der Krieg beginnt an einem Donnerstag. Kurz nach sechs Uhr morgens Moskauer Zeit reißt mich das Klingeln meines Telefons aus dem Schlaf. Am Display leuchtet die Nummer der Redaktion in Wien. Ein Anruf der Kollegen um diese Uhrzeit ist meistens ein schlechtes Zeichen. »Es hat angefangen«, sagt die Stimme am anderen Ende der Leitung, und der Kollege zählt hastig auf: Putin ist mit einer Kriegserklärung aufgetreten, es gibt Explosionen in Mariupol, Charkiw, Kyjiw und anderen Städten in der gesamten Ukraine, die Lage ist unübersichtlich.

Was der Kollege erzählt, klingt nach dem, was seit Wochen viele befürchtet und die wenigsten geglaubt haben: Russland hat offenbar einen großflächigen Angriff auf die Ukraine begonnen. Das Ausmaß ist mir zu diesem Zeitpunkt aber noch nicht klar. Mit der Redaktion vereinbare ich den Ablauf der nächsten paar Stunden: Schaltung in der ersten Radionachrichtensendung um sechs Uhr Wiener Zeit, dann im Radio-Morgenjournal um sieben Uhr und direkt danach in der Frühausgabe derZeit im Bild-Fernsehnachrichten. Während ich mich auf den Weg ins Büro mache, vibriert mein Handy im Stakkato der Eilmeldungen: Russische Fallschirmspringer in Odessa gelandet, Ukraine hat Kriegszustand ausgerufen und Generalmobilmachung angeordnet, Berichte über erste Todesopfer. Was ich da ungläubig lese, sieht nicht nach einem Einmarsch russischer Truppen in den Donbas aus, mit dem seit Tagen zu rechnen war, sondern nach einem vollständigen Angriff auf das gesamte Nachbarland.

Zum Nachdenken bleibt keine Zeit. Ich rufe meine Kollegin Miriam an. Sie ist in diesem Moment zufällig viel näher am Kampfgeschehen als ich — erst am Vorabend ist sie mit ihrem Kameramann in Rostow am Don in Südwestrussland gelandet, nur hundert Kilometer von der ukrainischen Grenze entfernt. Dort wollte sie einen Beitrag über die mutmaßliche Zwangsevakuierung der ukrainischen Bevölkerung filmen. Die russischen Behörden haben denORF und andere internationale Medien zu einem Pressetermin in ein Flüchtlingszentrum eingeladen — ausgerechnet für den Nachmittag des 24. Februar. Zu diesem Dreh wird es nicht mehr kommen.

»Miriam, der Krieg hat angefangen«, sage ich atemlos in den Hörer. An ihrer Stimme erkenne ich, dass sie seit ihrem Nachtflug nur wenig geschlafen hat. Ohne viel zu erklären, bitte ich sie, sich mit ihrem Kameramann eine sichere Position für Liveschaltungen zu suchen, vorzugsweise in einem geschützten Innenraum. »Oh mein Gott«, schreibt Miriam wenige Minuten später per WhatsApp, nachdem sie die ersten Nachrichtenmeldungen gelesen hat, »das ist ja die ganze Ukraine! Haben uns ein Livestudio im Hotelzimmer eingerichtet.«

Mein Adrenalinspiegel steigt, als ich den Lift in unserem grauen Bürogebäude zwei Kilometer südlich des Moskauer Kremls betrete. Vom Spiegel an der Wand starrt mir ein kreidebleiches Gesicht entgegen. Ich zücke mein Handy und nehme ein kurzes Video auf, um den Moment für später zu dokumentieren: »Guten Morgen«, sage ich mit kratziger Stimme, »es ist sieben Uhr am 24. Februar 2023 —« Ähm, 2023? Kurzes Kopfschütteln. Warum ich mich ausgerechnet im Jahr irre, wundert mich in diesem Moment selbst. Es ist wohl Ausdruck des allgemeinen Chaos an diesem Donnerstagmorgen. Oder gar ein Vorbote für die Zeitenwende, die bevorsteht? Ich setze neu an: »Es ist der 24. Februar 2022. Putin hat in der Nacht angekündigt, eine Militäroperation gegen die Ukraine zu starten.« Pause. Tiefes Durchatmen. »Es gibt Krieg. Wir werden jetzt stündlich in Liveschaltungen versuchen, die unübersichtlichen Ereignisse irgendwie einzuordnen.« Mein Gesichtsausdruck im Video wirkt, als hätte man mich gerade aufgeweckt, auf ein Zehn-Meter-Brett gestellt und mir befohlen, mit verbundenen Augen ins Wasser zu springen. In weniger als einer Stunde muss ich live meinen ersten Lagebericht abgeben.

Ich schalte hastig Computer, Radio und Fernseher ein und sehe Putins frühmorgendlicheTV-Ansprache, die im staatlichen NachrichtensenderRossija 24 in Endlosschleife wiederholt wird: Zwischen zwei Russlandfahnen sitzt mit eisiger Miene der Präsident an einem Schreibtisch, die linke Hand eigenartig an die Tischplatte geklemmt, die rechte hebt er beim Gestikulieren ab und zu leicht an. Putin spricht unruhig, mit künstlichen Pausen, immer wieder verdunkelt sich sein Blick. »Ich habe die Entscheidung getroffen, eine spezielle Militäroperation durchzuführen. Ziel ist es, die Menschen zu schützen, die acht Jahre lang unter den Misshandlungen und dem Völkermord durch das Kiewer Regime gelitten haben.« Diese von Putin oft wiederholten Anschuldigungen eines angeblichen Völkermords seitens der ukrainischen Truppen im Donbas werden von unabhängigen Quellen nicht gestützt. DasUN-Hochkommissariat für Menschenrechte sieht in seinem Bericht vom September 2021 keine Anzeichen für einen Genozid.1 Zum selben Befund kommt dieOSZE-Beobachtermission, die seit 2014 — wohlgemerkt mit russischer Zustimmung — die Lage beiderseits der Frontlinie in der Ostukraine beobachtet. Putin schließt die Kriegserklärung mit einer Drohung an alle Staaten, die die Ukraine unterstützen: Wer versuche, Russland zu stoppen, müsse mit einer sofortigen Reaktion rechnen und mit Konsequenzen, wie es sie »noch nie zuvor in der Geschichte« gab. Die Botschaft ist klar: eine unverhohlene Drohung mit dem russischen Atomwaffenarsenal an alle, die sich in den Krieg militärisch einmischen. Es wird nicht die letzte Drohung dieser Art sein.

Die nächsten Stunden fühlen sich an wie ein Wirbelsturm, der uns einsaugt, hin und her beutelt, auf den Kopf stellt, mit Nachrichten und Meldungen bewirft und am Abend wieder ausspuckt. Schaltgespräch folgt auf Schaltgespräch, ich verlasse zum Teil das Livestudio zwischen den Einstiegen gar nicht und arbeite, verkabelt und eingeleuchtet, auf der Liveposition weiter. Es geht darum, zu funktionieren. Das Adrenalin dürfte eine wichtige Rolle dabei spielen, dass die Konzentrationsfähigkeit auch nach fünfzehn Stunden unverändert hoch bleibt. Wenn ich in diesen Stunden eines spüre, dann ist es eine klare Mission: zu erzählen, was wir wissen und was wir nicht wissen. Auch imORF-Zentrum in Wien herrscht an diesem Tag Ausnahmezustand, mit stundenlangen Sondersendungen zum Krieg, die zu einem großen Teil von den Korrespondentinnen und Korrespondenten in der Ukraine, in Russland und dem Rest der Welt gefüllt werden.

Während ich von Moskau aus die Meldungslage sortiere, schaltet sich Miriam regelmäßig aus dem rund tausend Kilometer entfernten Rostow am Don zu und schildert ihre Beobachtungen: Kampfjets donnern über ihren Kopf hinweg, als sie mit ihrem Kameramann einen Stadtrundgang macht. Entlang des Grenzstreifens zur Ukraine, zweieinhalb Stunden von Rostow entfernt, gibt es bereits Meldungen über Einschläge auf russischem Boden. Die russischen Behörden sperren den Luftraum in allen an die Ukraine angrenzenden Regionen — auch der Regionalflughafen von Rostow am Don ist vorübergehend geschlossen. Am Vortag mit der Abendmaschine gelandet, werden Miriam und ihr Kameramann die Rückreise später per Auto antreten müssen. Denn auch alle Zugverbindungen sind ausgebucht. Offenbar versuchen viele Menschen, die Grenzregion zu verlassen.

Ein dramatischer Tag geht zu Ende


Am Abend des ersten Kriegstages gehen in Moskau und mehr als fünfzig anderen Städten Russlands tausende Menschen gegen den Krieg auf die Straße. »Njet wojne« — Nein zum Krieg — wird zum spontanen Protestslogan, der sich auch in den sozialen Medien rasend schnell verbreitet. Mein Instagram-Feed ist voll mit Ukraine-Flaggen und Anti-Kriegs-Botschaften, die meine russischen Freunde und Bekannten in den ersten Stunden posten. Dieser Protest — on- und offline — ist in diesem Moment ein kleiner Hoffnungsschimmer, dass sich in der russischen Bevölkerung Widerstand gegen Putins Aggression regen könnte. Doch die Antwort der Staatsmacht lässt nicht lange auf sich warten. Überall, wo sich friedliche Proteste formieren, schreitet die Polizei sofort mit aller Härte ein. Es gibt bereits am ersten Tag rund 1500 Festnahmen, davon etwa tausend allein in der Hauptstadt. Auch wenn die Proteste für einige Wochen anhalten werden, erreichen sie von Anfang an keine Größe,...