: Friedrich Ani
: Totsein verjährt nicht Roman
: Paul Zsolnay Verlag
: 9783552054844
: 1
: CHF 7.20
:
: Krimis, Thriller, Spionage
: German
: 288
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Am 8. April 2002 wird die achtjährige Scarlett Peters zum letzten Mal gesehen. Drei Jahre danach wird Jonathan Krumbholz, ein 24-jähriger, geistig zurückgebliebener Mann, wegen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt. Sechs Jahre später bekommt Polonius Fischer, Kommissar bei der Mordkommission in München, von einem Schulfreund der Verschwundenen einen Brief. Er will Scarlett auf der Straße erkannt haben. Ist dem Zeugen zu trauen? Ist Scarlett gar nicht tot - obwohl ihre Mutter für sie ein Grab auf dem Neuen Südfriedhof gekauft hat? Hat die Polizei sich geirrt? Friedrich Ani erzählt in seinem Kriminalroman mit atemloser Spannung die Geschichte eines realen Falles, der alle Sicherheiten in Frage stellt. Polonius Fischer ist zutiefst irritiert: Haben seine Kollegen wissentlich nach einem Sündenbock für einen Mord gesucht, um einen Fall abzuschließen, der die Öffentlichkeit bewegt hat wie kein zweiter?

Friedrich Ani, geboren 1959 in Kochel am See, lebt heute in München. Neben Kriminalromanen schreibt er Lyrik, Erzählungen, Jugendromane und Drehbücher. Bei Zsolnay erschienen zuletzt: Idylle der Hyänen (Roman, 2006), Hinter blinden Fenstern (Roman, 2007), Mitschnitt (Gedichte, 2009) und Totsein verjährt nicht (Roman, 2009). Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen, u.a. den Tukan-Preis (2006) und den diesjährigen Deutschen Krimipreis 2010 (mit dem er bereits 2002 und 2003 geehrt wurde).

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»Auf dem Schulweg und im richtigen Leben«


Sehr geehrter Herr Fischer,

bestimmt wissen Sie nicht mehr, wer ich bin, das macht nichts. Ich heiße Marcel Thalheim, bin sechzehn Jahre alt und gehe in die Wilhelm-Röntgen-Realschule. Vor über sechs Jahren haben Sie mal kurz mit mir gesprochen, und dann habe ich noch bei einem Ihrer Kollegen eine Aussage gemacht, ich glaube, sein Name war Schell, aber sicher bin ich mir nicht. Er hat das, was ich gesagt habe, in seinen Computer geschrieben und ausgedruckt, und ich habe alles unterschrieben. Es ging um Scarlett Peters, die verschwunden war, und niemand wusste, wohin und was überhaupt passiert war. Das war sehr schlimm.

Ich war mit Scarlett gut befreundet. Wir sind fast jeden Tag zusammen in die Grundschule gegangen, wir wohnten in derselben Straße (Lukasstraße). Manchmal hat sie mir von ihrer Mama erzählt, die in einem Krankenhaus arbeitet. Ihren Vater hat sie fast nicht gekannt, weil der ihre Mama bald schon verlassen hat. Wenn ich Scarlett was gefragt habe, hat sie nicht gern geantwortet, sie war immer sehr still. Aber das hat mir nichts ausgemacht, ich bin gern mit ihr zur Schule gegangen. Oft sind wir auch gemeinsam von der Schule nach Hause gegangen.

Wenn irgendwo ein Ball rumgelegen ist, hat sie ihn durch die Gegend geschossen. Fußball spielen fand sie super. Ich habe noch nie ein Mädchen gesehen, das lieber Fußball spielt, als irgendwas anderes zu tun. So war die Scarlett.

Und dann war sie verschwunden, und wir haben alle inder Schule beim Suchen geholfen. Sie ist nicht wiedergekommen. Ich habesie sehr vermisst. Das Vermissen hat gar nicht mehr aufgehört. Sie sind der erste Mensch, dem ich das sage.

Ich habe alle Zeitungsartikel über Scarlett ausgeschnitten und in einer Schachtel gesammelt. Das weiß niemand. Das Vertrauen in die Mordkommission habe ich eigentlich verloren, in Sie aber noch nicht, Herr Fischer. Sie glauben mir, das weiß ich, und Sie werden jetzt, wenn Sie lesen, was ich erlebt habe, handeln und sich von Ihren Kollegen und Vorgesetzten nicht einschüchtern lassen. Das hoffe ich jedenfalls.

Ich habe Scarlett Peters erkannt …

 

Zum vierten Mal las er den Brief, den er von zu Hause mitgebracht hatte, und wieder verschwammen die Zeilen vor seinen Augen. Wieder trank er erst einen Schluck Wasser, bevor er über das nachdachte, was da stand und was er längst wusste. Er hatte begriffen, dass er, wenn er immer wieder über die Sätze des Schülers nachdachte, eine Weile von allem anderen verschont wurde, das ihn seit Tagen um den Verstand brachte.

Nie hatte Polonius Fischer so sehr an seinem Verstand gezweifelt wie seit dem Moment, als ein Streifenpolizist ihm die Nachricht von Ann-Kristins Auffindung überbracht hatte. Wir haben sie aufgefunden, sagte der Kollege. In dieser Sekunde glaubte Fischer zu ersticken.

Wie damals in der Zelle. Als er nach endlosem Schreien keine Luft mehr bekam und ohnmächtig wurde.

Geschrien hatte er noch nicht. Auch hatte er nicht das Bewusstsein verloren. Vielmehr hatte er einen Grad von Wachheit erreicht, der ihn umso mehr quälte, je länger er andauerte.

Ann-Kristins Auffindung.

Am selben Abend, gestern, hatte er seine schwarze Reisetasche gepackt und war von seiner Wohnung in der Sonnenstraße in östlicher Richtung gegangen, durch die Fraunhoferstraße den Nockherberg hinauf, mit ausladenden Schritten, in seinem dunkelblauen Wollmantel, den Stetson tief in die Stirn gezogen. Er brauchte nur eine halbe Stunde. Das Zimmer kostete fünfundsiebzig Euro. Den Namen der Pension hatte Ann-Kristin vor Kurzem erwähnt, sie hatte nachts einen Gast dort abgesetzt und ein paar Worte mit der Wirtin gewechselt. Tatsächlich hatte Fischer di