: Sin Blaché, Helen Macdonald
: Prophet Roman
: Carl Hanser Verlag München
: 9783446278615
: 1
: CHF 17.10
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 528
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Wenn die schönste Erinnerung zur gefährlichsten Waffe wird - ein genresprengender Thriller von Helen Macdonald und Sin Blaché
Im ländlichen England taucht ein amerikanisches Diner auf, hell, warm, einladend - aber ohne Strom, ohne Anschluss an die echte Welt. Als in der Nähe eine Leiche gefunden wird, werden zwei ungleiche Ermittler hinzugezogen: Dem zugeknöpften Adam Rubenstein widerstrebt alles an seinem chaotischen Partner Sunil Rao. Doch im Kampf gegen eine neue, bedrohliche Realität entwickelt sich zwischen den beiden eine unentrinnbare Anziehungskraft. Ein spektakulär spannender Roman über die beängstigende Macht nostalgischer Verklärung. Ein brillantes Spiel mit unseren Gewissheiten, ein messerscharfer Blick auf unsere Gegenwart und die mitreißende Liebesgeschichte zwischen zwei Geheimagenten.

Sin Blaché, geboren in Kalifornien, ist eine Schwarze irische Musiker:in und Autor:in. Sie lebt heute im Nordwesten Irlands. Prophet (mit Helen Macdonald, Hanser, 2023) ist ihr erster Roman.

1


In dem Zimmer, in das sie ihn führt, riecht es nach schalem Zigarettenrauch und Raumspray. Die Einrichtung entspricht dem Military Standard eines Holiday Inn in den Achtzigern. Dunkelgrüner Teppichboden, gestreifte Sessel, ein Rauchglastisch, an der Wand ein Druck in vergoldetem Rahmen mit zwei F-15, die Kondensstreifen hinter sich herziehen. Das Dröhnen der Motoren ist hier zu einem dunklen Niedrigfrequenzlärm abgeschwächt.

Miller zieht ihre Jacke aus, legt sie über die Lehne eines Stuhls, zuckt beim Anblick einer halb ausgetrunkenen Tasse Kaffee auf dem Tisch zusammen und blickt Rao entschuldigend an. Ihre Augen sind hellblau wie Luftpostpapier, die Fältchen in den Augenwinkeln auf die Sonne zurückzuführen. Ihr Haar ist blondiert, oben zerzaust, an den Seiten und hinten raspelkurz, und ihr Kostüm schmiegt sich so perfekt an ihre hagere Figur, dass es ein Vermögen gekostet haben muss. Am linken Handgelenk trägt sie eine Cartier Tank Solo, an den Ohren prangen Goldstecker, und sie gibt sich so große Mühe, nett zu sein, dass Rao Zahnschmerzen hat. 

Sie setzen sich.

»Möchten Sie irgendwas?«

»Einen Drink.«

»Mr. Rao«, sagt sie mit tadelndem Unterton. »Ich kann Ihnen Kaffee, Tee oder Sprudel anbieten.«

»Wasser«, sagt er angespannt. »Ohne Eis.« Sie amüsiert sich, aus dem richtigen Grund. Sie erkennt Geringschätzung, auch wenn sie freundlich vorgebracht wird. Nach Raos Erfahrung besitzen nicht viele Amerikaner dieses Talent.

»Da drüben ist eine Kühlbox.«

Sie erwartet nicht, dass er aufsteht. Und er tut es auch nicht.

»Wahrscheinlich wissen Sie nicht, warum Sie hier sind.«

»Warum ich von zwei Beamten des Verteidigungsministeriums aus dem Gefängnis geholt und zu einer amerikanischen Air Base im hintersten Winkel Englands gebracht wurde? Nein, das weiß ich nicht. Sie wollten es mir nicht sagen.«

»Die beiden wussten es nicht. Wollen Sie raten?«

O Mann. Rao starrt ihr dunkles Spiegelbild auf der Platte des Rauchglastischs an, die Wölbung ihres Kinns, ihren erwartungsvoll geneigten Kopf. »Wissen Sie was? Sie können mich mal. Sagen Sie mir doch einfach, was Sie wollen, sonst kehre ich in meine lauschige Zelle zurück und widme mich wieder dem Rest meines Lebens.«

»Ach so?«

»Ganz genau.«

»Okay«, sagt sie gelassen. Sie greift in die Tasche vor ihren Füßen, zieht eine Akte heraus und schlägt sie auf. »Sunil Rao, sechsunddreißig Jahre alt, geboren1974 in Kingston upon Thames,UK. Britischer Staatsbürger, im Besitz einerOCI-Karte. Sohn von Himani und Bhupinder. Mutter arbeitet für Christie’s. Vater Familienbetrieb, edler Schmuck.« Sie liest weiter, hebt eine Braue. »Sehr schön. Schulzeit in St. Elgin’s. Abschluss in Kunstgeschichte am St. John’s College, Oxford. Sechs Jahre bei Sotheby’s, Echtheit und Zuordnung, dannMI6.« Sie blickt auf und lächelt. »Sehr patriotisch.«

Sie ist offensichtlich auf eine Reaktion aus. Was bedeuten könnte, dass sie nicht genug Informationen hat, um ihn zu irgendetwas zu drängen. Wahrscheinlich will sie bloß seine Geduld auf die Probe stellen. Beides spräche dafür, dass sie ihn nicht in den nächsten zwanzig Minuten in ein Flugzeug zurück nach Kabul setzen, doch das macht ihre Strategie nicht erträglicher.

»Im letzten Herbst acht Wochen gemeinsame Operation in Zentralasien.« Ihre Stimme wird weicher. »Ihr Partner bei derDIA hat Ihre Fähigkeiten in den höchsten Tönen gelobt.«

»Tatsächlich? Ich habe den Dienst quittiert.«

»Das ist uns bekannt.« Sie blickt stirnrunzelnd in die Akte. »Dann Afghanistan. Wo es offenbar nicht ganz so gut lief. Hier steht, dass Sie unzuverlässig wurden.«

»In höchstem Maße.«

»Hier steht, Sie hätten in einem Hotelzimmer eine Überdosis genommen.«

»Stimmt. Es war allerdings kein Hilferuf.«

Darauf reagiert sie mit Schweigen, aber nicht dem Schweigen, das er auslösen wollte. Es wirkt eher nachdenklich. »Könnten Sie mir von dem Vorfall bei der Entziehungskur erzählen?«, fragt sie nach einer Weile behutsam. »Davon steht nichts in der Akte.«

»Nicht?« Er sieht ihr in die Augen. »Ich hab einem widerwärtigen Arsch, der gelogen hat wie gedruckt, in der Gruppentherapie eine reingehauen.«

»Ich hab gehört, dass es richtig zur Sache ging.«

Rao spreizt die Hände auf der Tischplatte, zieht Luft durch die Nase ein, atmet aus.

»Warum bin ich hier?«

»Sind Sie fit genug, um zu arbeiten?«

»Das bezweifle ich.«

Sie legt die Akte auf den Tisch zwischen ihnen und streicht sie an einer Ecke glatt. Zieht in einer wohlüberlegten Bewegung den Finger über den Umschlag. »Wie’s aussieht, brauchen wir Sie, Mr. Rao.« Sie klingt nicht besonders glücklich. »Wir haben niemanden mit Ihren Fähigkeiten.«

»Soso«, knurrt er. »Hab ich mir schon gedacht.«

»Das haben Sie sich gedacht?«

»Ja.«

Sie führt ihn durch einen Flur zu einem leeren Sitzungssaal, in dem ein Sternenbanner schlaff neben einer Leinwand hängt. Auf dem langen Tisch in der Mitte sind Tassen, Becher, Teller und Schüsseln aufgereiht. Miller lässt den Blick darüber gleiten und sieht ihn erwartungsvoll an. Jetzt weiß er, was hier läuft. Angesichts der vertrauten Szenerie reibt er sich den Nacken. Erinnert sich an das schräg durch die Fenster fallende Licht, den darin aufsteigenden Zigarettenrauch, an die Frage seines Vaters, während er auf die Schmuckschatullen auf dem Schreibtisch deutete.Was, würdest du sagen, ist davon am interessantesten, Sunil?

»Das Kim-Spiel, oder?«

»Nein, Mr. Rao«, sagt sie.

Ein Heizkörper surrt und zischt. Rao steckt beide Hände tief in die Taschen seiner Jeans und wartet auf Millers Aufforderung, die er bereits zu kennen glaubt.

»Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie sich diese Objekte ansehen und mir sagen könnten, ob irgendwelche nicht zu den anderen passen.«

»Das dritte von links«, sagt er. »Die weiße Tasse.«

»So schnell, mit bloßem Auge? Können Sie mir sagen, was daran anders ist?«

»Sie ist falsch.«

»Falsch?«

»Einfacher kann ich es unter diesen Umständen nicht ausdrücken.«

Sie legt den Daumen kurz an ihren geschlossenen Mund und zieht ihn dann wieder weg.

»Mr. Rao, wir würden Ihnen gern etwas zeigen. Ich glaube, Sie dürften das interessant finden. Wenn Sie mir bitte folgen, draußen wartet ein Fahrzeug.«

Die Dringlichkeit des Ganzen ist plötzlich so offensichtlich, dass Rao im Flur stehen bleibt, um irgendwelche Aushänge zu lesen.Baseballtraining,Ernährungsberatung,entlaufener Hund,Seilrutschentour,Flohmarkt,Pizzaabend,Motorradrennen. Er blickt zu Miller hinüber, sieht ihre geballten Fäuste, ihre stille Unruhe und liest mit aufwallender Kleinlichkeit alles noch mal.

Ihre Schritte hallen auf dem nassen Asphalt. Suffolk ist in Nebel gehüllt: ein dichter, unbeständiger Dunst, der in der Abenddämmerung schillernd um die Lichter der Air Base wabert. Miller nimmt einen Parka vom Rücksitz eines unbeschrifteten Land Cruisers und reicht ihn Rao wortlos. Ihr Fahrer ist angespannt. Er will die Zündung einschalten, obwohl der Motor schon läuft, und setzt den Blinker viel zu früh für die Kreuzung. Es liegt nicht an Millers Anwesenheit. Er hat Angst. Rao spreizt die Hände auf seinen Schenkeln, mustert seine Finger und weiß, dass auch er Angst hat. Es ist eine Lüge im Spiel, und dabei geht es nicht bloß um die übliche Verheimlichung irgendeines Blödsinns. Das Ganze schlägt ihm aufs Gemüt. Er blickt aus dem Fenster, um sich abzulenken. Lichter im Nebel. Vorbeiziehende Formen, die sich als Scheunen und Hühnerfarmen erweisen, Scheinwerferstrahlen auf den Hecken am Straßenrand. Nach einem Kilometer biegen sie auf einen Feldweg voller Schlaglöcher. Ein paar hundert Meter...