: Annette Wieners
: Das Mädchen aus der Severinstraße Roman
: Blanvalet
: 9783641231828
: 1
: CHF 7.20
:
: Erzählende Literatur
: German
: 480
: DRM
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Ein Roman über eine große Liebe und ein lebendiges Stück deutscher Zeitgeschichte
Köln, 1937. Die siebzehnjährige Maria Reimer bewirbt sich heimlich als Fotomodell. Sie ahnt nicht, welche Pläne der Chef des Foto-Ateliers mit ihr hat: Sie soll das neue Gesicht der Nazi-Propaganda werden. Der jüdische Fotograf Noah will Maria noch warnen, aber sie missversteht sein Verhalten - und verliebt sich in ihn.

Jahrzehnte später findet Marias Enkelin Sabine ein Vermögen im alten Haus der Familie. Es ist Geld und Gold, das der Großvater versteckt hat. Aber woher stammt der Reichtum? Was ist Ende der 1930er Jahre wirklich geschehen, als Maria unter dem Künstlernamen Mary Mer vor der Kamera stand?

Annette Wieners ist Schriftstellerin und Journalistin. Sie wurde in Paderborn geboren. Nach Stationen in Münster, München und Hannover lebt sie seit vielen Jahren in Köln.

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Sie war nicht zum ersten Mal heimlich unterwegs, den Mantelkragen hochgeschlagen, den Hut tief über die hellen Haare gezogen. Aber heute saß sie in der Reichsbahn und verließ sogar Köln. Gleich nach dem Frühstück, kaum dass der Vater die Armbanduhr aufgezogen und die Stufen zum Kontor betreten hatte, war sie zum Bahnhof gelaufen. Nicht ohne nachzudenken: Sie war mit den polierten Schuhen über jede Pfütze gesprungen und hatte das Billett fest in der Hand gehalten. Aber erst als sie im Abteil saß und der Schaffner sie ansprach, konnte sie hochsehen. Sie reichte ihm den Fahrschein, er war feucht und weich.

Bestimmt würde der Vater denken, sie sei spazieren gegangen, aber später würde er sich Sorgen machen. Maria Reimer, schlank und groß wie Sankt Petrus Canisius, zog die Aufmerksamkeit auf sich, wie er fand, und Aufmerksamkeit war heikel, war unwägbar und gefährlich, vor allem, seitdem die Wehrmacht in Köln eingerückt war.

»Rede nicht mit ihnen, auch wenn sie dich dazu auffordern«, sagte der Vater neuerdings, und wenn sie dann fragte: »Warum denn nicht? Wir haben nichts zu verbergen«, erwiderte er, der langweilige, der wohl Deutscheste unter den Deutschen: »Trotzdem.«

Als ob sie so dumm wäre. Und als ob sie überhaupt auf die Idee käme, mit Soldaten zu reden, die sich von der gesamten Stadt feiern ließen, ohne dass klar wurde, wofür.

Nein. Sie, Maria, siebzehn Jahre alt, wusste selbst, was gut für sie war.

Abends zum Beispiel, wenn der Vater zu seinem Debattierclub aufbrach, blieb sie nicht auf der Chaiselongue liegen, sondern schlich aus der Wohnung, die Gassen hinunter zum Rhein. Solange das Tageslicht ausreichte, konnte sie den Frauen, die am Ufer flanierten, ins Gesicht sehen. Das Rouge wurde seit Neuestem bis dicht unter die Augen gezogen, und die Brauen zupfte man sich vollständig aus, um sie mit einem Stift in einer feinen Linie nachzuzeichnen. Hohe, aufgemalte Bögen, darauf musste man erst einmal kommen!

Außerdem hatte sie viele Stunden damit zugebracht, das richtige Gehen zu lernen. Sie hatte an der Ecke gestanden und beobachtet. Die eine Frau wirkte elegant, wenn sie den Steg der Rheindampfer betrat, die andere schwankte wie ein Gaul. Wie kam das? Wie konnte Maria es selbst erreichen, besser zu gehen? Sie hatte einiges ausprobiert, und der Vater wusste gar nicht, wie bedeutend das war. Anstrengend auch und ernsthaft, und auf jeden Fall wichtig für die Zukunft, mit der Maria ihn noch überraschen würde, egal ob er versuchte, sie abzuschotten.

Im Grunde tat der Vater genau das, was er der Schuldirektorin vorgeworfen hatte. Er nutzte seine Macht aus, wollte über Maria bestimmen und am liebsten noch ihre Gedanken dirigieren. Dabei hatte er ihr persönlich beigebracht, sich solchen Versuchen zu widersetzen.

Die Schuldirektorin hatte neue Lehrpläne bekommen, von ganz oben, und dass die Mädchen plötzlich koch