: Hwang Sok-yong
: Dämmerstunde
: Europa Verlag GmbH& Co. KG
: 9783958903067
: 1
: CHF 15.90
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 208
: DRM
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Am Rand der südkoreanischen Megacity Seoul wächst Minu in einem von Bandenkriminalität beherrschten Armutsviertel auf. Er kann studieren, arbeitet sich hoch und bringt es als Architekt mit eigener Baufirma zu Ansehen und Wohlstand. Eines Tages erhält er eine Nachricht von seiner Jugendliebe, und auf einmal erwachen alte Erinnerungen. Als er den Ort seiner Kindheit aufsucht, findet er aber keinerlei Spuren der Vergangenheit mehr. Seine Geschichte kreuzt sich mit der einer jungen Frau. Uhi will ihren Traum, sich als Theaterregisseurin durchzusetzen, nicht aufgeben. Mit Nachtschichten in einem 24-Stunden-Nahversorger kann sie kaum die Miete stemmen, doch sie verfolgt ihr Ziel, während Minu den Versäumnissen in seinem Leben nachgrübelt. 'Dämmerstunde' bildet eine tiefgründige Ergänzung zu 'Vertraute Welt', diesem märchenhaften Roman, der auf der großen Mülldeponie am Rand von Seoul spielt. Hier wie dort geht es um die unterschwellige Wirkung einer fast ausgetilgten Welt auf die modernen Verhältnisse in einem Land, in dem beim Streben nach wirtschaftlicher Entwicklung wenig Rücksicht auf Verluste genommen wurde.

Hwang Sok-yong wurde 1943 im damaligen Mandschukuo (heute China) geboren. Schon als Jugendlicher gewann er mehrere Schreibwettbewerbe, brach aber die Schule ab, um als Wanderarbeiter auf Baustellen und in Fabriken Land und Leute seiner Heimat kennenzulernen. Als Philosophiestudent engagierte er sich im Widerstand gegen die Militärdiktatur und für den Schutz von Arbeiterrechten. Die Auseinandersetzung mit der politischen Unterdrückung und ökonomischen Ausbeutung durch die militant antikommunistische Regierung Südkoreas sollte ab den frühen 1970er-Jahren kennzeichnend für sein Werk werden. Wegen Verstoßes gegen das 'Sicherheitsgesetz' wurde er 1993 in Seoul zu sieben Jahren Haft verurteilt, 1998 vom neugewählten Präsidenten Kim Dae-jung begnadigt. Eine Verarbeitung des Gefängnisaufenthalts ist der Dissidentenroman 'Der ferne Garten' (1999). Seither hat Hwang in einer Reihe von Romanen, unter anderem 'Die Lotosblüte' (2003) und 'Prinzessin Bari' (2007), seine bisherigen Interessen mit dem Thema der internationalen Migration verknüpft, während er gleichzeitig verstärkt auf Stoffe und Motive aus der vormodernen koreanischen Erzähltradition zurückgreift. Mit zahlreichen nationalen und internationalen Literaturpreisen ausgezeichnet, gilt Hwang Sok-yong als Südkoreas aussichtsreichster und würdigster Nobelpreiskandidat.

KAPITEL 1


Der Vortrag war zu Ende.

Der Projektor wurde ausgeschaltet, die Präsentation verschwand von der Leinwand.

Ich trank das Glas Wasser, das man mir aufs Rednerpult gestellt hatte, zur Hälfte aus und stieg vom Podium hinunter zum Publikum, wo sich schon viele von ihren Plätzen erhoben hatten und eifrig miteinander tratschten. »Die Entwicklung alter Stadtzentren und urbanes Gestalten« war mein Thema gewesen, und dass es auf Interesse stieß, bezeugte die beträchtliche Zuhörerschar, die sich heute hier eingefunden hatte. Ein Magistratsdirektor, Leiter des Planungsausschusses für den Privatsektor, nahm sich meiner an, und ich folgte ihm in die Aula vor dem Hörsaal. Alle strebten schon dem Ausgang zu, als sich eine junge Frau gegen den Strom durch die Menge zwängte und auf mich zusteuerte:

»Einen Moment, bitte!«

Ich blieb stehen, um sie näher in Augenschein zu nehmen. Zu Jeans trug die Frau ein T-Shirt, alles sehr gewöhnlich, und das ungeschminkte Gesicht wurde von einem Kurzhaarschnitt umrahmt.

»Ich habe Ihnen etwas zu geben.«

Ich starrte sie nur verdutzt an, während sie mir einen Zettel hinhielt, auf dem groß ein Name prangte. Darunter standen in kleinerer Schrift Zahlen, die wohl eine Telefonnummer ergaben.

»Was soll das sein?«, fragte ich, während ich den Zettel in Empfang nahm. Inzwischen befand sich die Frau bereits wieder in einer Art Rückwärtsgang.

»Das ist die Nummer von jemandem, den Sie gut kennen, von früher«, antwortete sie, wobei sie den Abstand zu mir weiter vergrößerte. »Sie sollen sich unbedingt einmal bei ihm melden«, rief sie noch.

Ehe ich eine weitere Frage stellen konnte, war die junge Frau in der Menschenmenge verschwunden.

Dass ich gut eine Woche später nach Yeongsan aufbrach, lag an einer Textnachricht von Gus Frau. Gu war ein Freund aus Kindertagen. Ich stamme aus Yeongsan, habe dort meine gesamte Volksschulzeit verbracht, und das Nachbarskind Gu drückte mit mir zusammen die Schulbank. Die meisten Leute, die im Kreiszentrum lebten, besaßen entweder ein kleines Geschäft an der neu angelegten zentralen Hauptstraße, oder sie waren in den diversen Amtsgebäuden und Schulen angestellt. Diejenigen, die noch in den althergebrachten Anwesen hausten, diesen gefälligen Bauwerken mit ihren geräumigen Innenhöfen, das waren die Grundbesitzer. Ihnen gehörten die Äcker und Reisfelder draußen vor der Stadt. Mit dem Pappenstiel, den ihm seine Anstellung als Schreiber im Kreisamt einbrachte, konnte mein Vater unsere Familie gerade so erhalten.

Yeongsan lag am sicheren Ufer des Nakdong; nach dem Krieg war es dort nicht viel anders als vorher. Nachdem mein Vater mit heiler Haut aus dem Krieg zurückgekehrt war, verschaffte man ihm im Kreisamt von Yeongsan einen Posten als Hilfskraft. Meiner Mutter zufolge hin