ANDREAS GRUBER
Vor Wien schwoll die Donau zu einem mächtigen Fluss an, der sich ruhig und gelassen – fast schon majestätisch – durch die Stadt bewegte.
Die alte Frau mit den kleinen gewitzten Augen klemmte sich ihren Spazierstock unter den Arm und ging neben der Donaubrücke Stufe um Stufe zum Ufer hinunter, wo sie sich zwischen den Weiden auf eine Bank setzte. Der Fußmarsch vom Hotel bis zu dieser Stelle war weit gewesen; mittlerweile keuchte sie mit ihren sechsundsiebzig Jahren bei jeder Bewegung, und ihre müden Knochen ächzten. Doch dann saß sie endlich und betrachtete das blaue Wasser, in dem sich die aufgehende Sonne spiegelte. Eine Möwe flog kreischend über die kleinen, sich kräuselnden Wellen.
Die Frau hätte nicht gedacht, noch einmal nach Wien zu kommen. Diese Stadt zu sehen, in der sie als Mädchen aufgewachsen war, und die so viele schöne, aber auch traurige Erinnerungen in ihr wachrief.
Sie schloss die Augen, die Sonne wärmte ihr Gesicht, und sie erinnerte sich an ihre letzten Stunden in Wien.Damals, ja damals. Es war eine ereignisreiche Nacht in jenem Sommer 1953 gewesen …
Didina zog sich die Decke über den Kopf, knipste die Taschenlampe an und faltete noch einmal den Brief auseinander, den sie vor zwei Tagen von Onkel Todor erhalten hatte. Dabei bewegte sie sich so leise wie möglich, um die anderen Kinder im Schlafsaal des Waisenhauses nicht zu wecken. Wurde es erst mal laut, kam auch schon die Aufseherin Frau Morwitzer – eine fürchterlich fette, hässliche und vor allem gemeine