Kapitel1
Alex
Hätte er es nur gewusst, hätte er alles anders gemacht. Er hätte sie fester umarmt, hätte sie länger geküsst, sie einfach festgehalten und nicht mehr losgelassen. Hätte er es doch nur gewusst …
Doch in der sonnendurchfluteten Küche hatten seine Lippen ihre nur gestreift, als würden in den nächsten Jahrzehnten noch tausend weitere Küsse folgen. Als könnten sie sich immer noch küssen, wenn ihr Haar von Silberfäden durchzogen war, während sein Haar immer dünner und sein Bauch dicker wurde.
Er hatte sich gerade gebückt, um den Orangensaft aufzuwischen, den Connor verschüttet hatte, da kam Lisa in die Küche und sah, wie der Saft auf den schwarz-weißen Fliesenboden tropfte und ihr Sohn in Tränen auszubrechen drohte. Connors Unterlippe zitterte.
»Niemand ist böse auf dich, Großer. Es war doch nur ein Versehen.« Alex schaute seine Frau an, und in seinem Blick war zu lesen, was er nicht aussprach.So was meine ich, wenn ich sage, er ist zu sensibel.
Ihre kornblumenblauen Augen erwiderten:Er ist erst sechs Jahre alt, und er kommt mit solchen Situationen eben nicht gut klar. Lass es einfach gut sein.
»Warte, ich mach das«, hatte Lisa gesagt und zu Alex’ Erleichterung nach dem Lappen gegriffen, während die Saftlache sich immer weiter ausbreitete.
Alex hatte an ihr hochgeschaut, angefangen bei den Stilettos mit den roten Sohlen, von denen ihr am Ende des Tages die Zehen schmerzen würden, bis hinauf zu dem beigefarbenen Etuikleid. Es war das perfekte Outfit für eine Frau, die bei einer Messe in London einen Vortrag halten würde, aber weniger gut geeignet, wenn man klebrige Saftpfützen in der Küche beseitigen musste.
»Den Rest mach ich, Schatz, ich schaff das schon.« Er sah auf seine Uhr und verschwendete damit weitere wertvolle Sekunden, in denen er das Gesicht seiner Frau hätte betrachten können. »Beeil dich lieber, sonst verpasst du noch deinen Zug.«
Er hatte recht gehabt, und doch hatte sie gezögert. Hatte sie ihn damals gespürt, den Augenblick, in dem der Sand aus dem oberen Teil der Sanduhr zu rieseln begann?
»Du nimmst den um7:48 Uhr, oder?«
Lisa hatte genickt und mit einer einzigen Bewegung sowohl ihre Laptoptasche als auch ihren Autoschlüssel ergriffen.
»Ich würde so gern mitfahren, Mummy! Ich will die Modelle vom Mond und von den Planeten angucken.«
Lisa ging neben Connors Stuhl in die Hocke. Alex mochte es, dass sie das immer machte, um mit ihrem Sohn auf Augenhöhe zu sprechen, sowohl im wörtlichen als auch im übertragenen Sinne. Diese Gewohnheit wollte er eigentlich übernehmen, doch er vergaß seinen guten Vorsatz ständig.
»Ich weiß, mein Schatz. Aber ich werde dort so mit diesem langweiligen Vortrag beschäftigt sein, dass wir gar keine Zeit hätten, uns gemeinsam all die tollen Ausstellungsstücke anzusehen. Nächstes Jahr dann«, flüsterte sie und küsste ihren Sohn auf den zerzausten, rotblonden Haarschopf. »Nächstes Jahr fahren du und ich gemeinsam zur Astronomiemesse. Mit dem Zug. Und wir schauen uns dort den ganzen Tag lang alles an, jeden einzelnen Stand. Nur du und ich.« Lisa legte sich die französisch manikürten Finger aufs Herz. »Versprochen.«
Alex sah fort, um ein Schmunzeln zu verbergen, denn er wusste nur zu gut, wie aufgeregt seine dreiunddreißigjährige Frau darüber war, dass sie diesenlangweiligen Vortrag halten durfte. Sie hatte ihn Abend für Abend geübt, mit Alex auf dem Bett sitzend, den Laptop zwischen ihnen, und hatte ihm von schwarzen Löchern, Supernovas und den Tiefebenen auf dem Mond erzählt, und das mit einer Leidenschaft, die ihn mit Stolz erfüllte, solch eine kluge und schöne Frau zu haben.
Er kannte ihren Vortrag inzwischen beinahe so gut wie sie selbst. »Das wird der Hammer«, hatte er ihr gestern Abend gesagt, sich zu ihr hinübergebeugt und vorsichtig ihren Laptop zugeklappt.
»Aber ich muss noch …«, protestierte sie, verstummte aber, als er sie küsste. »Na gut«, sagte sie seufzend und glitt mit ihren Händen unter den Saum seines T-Shirts, um seine Rückenmuskeln zu erkunden. »Ich kann ja schließlich improvisieren.«
»Drück mir die Daumen«, sagte Lisa jetzt und erhob sich scheinbar mühelos, trotz ihrer Wolkenkratzer-High-Heels, in denen sie nur wenige Zentimeter kleiner war als er. Sie ging zu ihm, um ihn zu umarmen, und hüllte ihn in eine hauchfeine Wolke des Parfums ein, das sie nur zu besonderen Anlässen trug. Und heute war tatsächlich ein besonderer Tag für sie; das sah er ihr an den Augen an, die v