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FEBRUAR 2020REYKJAVÍK
Der schwache spätwinterliche Wind fuhr durch die langen Haare der Kriminalermittlerin Hildur Rúnarsdóttir, die Haarspitzen flatterten in Richtung Norden. Hildur legte das Handtuch neben ihren Rucksack auf die Bank und schlüpfte in die weißen Badelatschen, die mit dem Logo einer Tankstellenkette bedruckt waren. Schuhwerk zu tragen, war hier durchaus sinnvoll, denn am Ufer lagen manchmal Glassplitter und anderer Abfall. Hildur ging über den weißen Sandstrand und am Bootssteg vorbei. Die rechts vom Steg gegrabene Lagune wurde gewärmt. Das aus einer heißen Quelle gepumpte Wasser hielt die Temperatur über fünfzehn Grad. Doch Hildur verschmähte die Warmwasserlagune und ging weiter zum offenen Meer. Sie streifte die Latschen ab und trat in das kalte Meerwasser.
Zuerst wurden die Knöchel kalt, dann die Knie. Der sandige Grund massierte die Haut an den Fußsohlen. Am gegenüberliegenden Ufer der Bucht waren die Reihenhäuser der Wohnsiedlung Kópavogur zu sehen. Als das acht Grad kalte Meerwasser über die Bauchmuskeln reichte, tauchte Hildur hinein und begann zu kraulen. Es ärgerte sie, dass sie nicht allein am Strand war. Das Meer war für sie immer schon ein Ort gewesen, an dem sie Stille und Einsamkeit genießen wollte, ohne sich mit anderen Menschen auseinandersetzen zu müssen.
Für die Jahreszeit war der öffentliche Badestrand von Reykjavík überraschend voll. In den letzten Jahren hatten viele ihre Begeisterung für das Kaltwasserschwimmen entdeckt, und das merkte man. Am Strand wimmelte es von Schwimmern in Neoprenschuhen und -handschuhen, die sich lauthals unterhielten.
Hildur verwendete keine besondere Ausstattung, wenn sie im kalten Wasser schwamm. Beim Surfen trug sie einen Nassanzug, aber Schwimmen war etwas anderes. Das kalte Wasser musste auf der Haut spürbar sein. Sie wollte sich von Zeit zu Zeit auskühlen. Wenn die Kälte von den Fußsohlen in die Bauchgegend und zum Brustkorb stieg, verlangsamte sich ihr Herzschlag. Das beruhigte sie.
Nachdem sie gut zweihundert Meter geschwommen war, hörte sie einen Ruf vom Ufer. Ein rundlicher Mann jenseits der mittleren Jahre in einem weißen Frotteebademantel hatte die Hände wie einen Trichter um den Mund gelegt und posaunte aus vollem Hals:
»Nicht so weit rausschwimmen!«
Es ärgerte Hildur, dass sie anhalten musste. Sie sah zu dem Mann hin, winkte ihm zu und hob den Daumen als Zeichen dafür, dass sie alles im Griff hatte. Das Meer war ihr Ein und Alles. Es heilte ihre Trauer und half ihr, Freude zu empfinden. Auf dem Meer durfte sie allein sein und gegen etwas kämpfen, das sie nie würde besiegen können. Sie liebte das Surfen. In Reykjavík war es schwierig, das Meer zu genießen, denn hier gab es nicht solche Wellen und nicht so leere Ufer wie zu Hause in den Westfjorden.
Hildur kannte Reykjavík aus ihrer Studienzeit. Sie hatte die Polizeischule besucht und danach einige Jahre in der Hauptstadt gearbeitet. Als die Polizeibehörde in ihrer Heimat einen Kriminalermittler und Leiter der Einheit für vermisste Kinder in den ländlichen Regionen suchte, hatte Hildur sich beworben und die Stelle bekommen. Die Rückkehr ins heimatliche Ísafjörður war wohltuend gewesen. In den letzten zehn Jahren hatte sie ein ziemlich ausgeglichenes Leben geführt. Zwischen den schroffen Bergen und dem stürmischen Meer fühlte sie sich heimisch. Die Naturgewalten und die dunklen Winter wirkte