: Bachtyar Ali
: Mein Onkel, den der Wind mitnahm Roman
: Unionsverlag
: 9783293311374
: 1
: CHF 8.00
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: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 160
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Djamschid Khan ist hinter dicken Gefängnismauern dünn geworden. Leicht wie Papier, sodass ihn eines Tages ein Windstoß erfasst und ihn fortträgt, über die Mauern des Gefängnisses hinweg und hinaus in die weite Welt. Immer wieder weht er davon, und immer wieder beginnt er ein neues Leben. Bei der Armee, als Geist, als Prophet, als Geliebter, als fliegende Attraktion - zahllose Wirbel ziehen den Mann mit sich fort, bis er selbst nicht mehr weiß, wer er einmal war und wohin er gehört. Einzig sein Neffe ist auf der Suche nach ihm und nach etwas, das seinem Onkel seine Wurzeln zurückgibt. Eine schwerelose, berührende, auch tragische Geschichte vom sich Verlaufen, vom neu Beginnen und der Frage, wohin wir eigentlich unterwegs sind.

Bachtyar Ali wurde 1966 in Sulaimaniya (Nordirak) geboren. 1983 geriet er durch sein Engagement in den Studentenprotesten in Konflikt mit der Diktatur Saddam Husseins. Er brach sein Geologiestudium ab, um sich der Poesie zu widmen. Sein erster Gedichtband Gunah w Karnaval (Sünde und Karneval) erschien 1992. Sein Werk umfasst Romane, Gedichte und Essays. Er lebt seit Mitte der Neunzigerjahre in Deutschland. 2017 wurde er mit dem Nelly-Sachs-Preis, 2023 mit dem Hilde-Domin-Preis ausgezeichnet.

Erster Flug


Als Djamschid 1979 verhaftet wurde, war er siebzehn. Die Baath-Partei hatte sofort nach Machtübernahme des neu ernannten Präsidenten damit begonnen, die Kommunisten, soeben noch ihre Hauptverbündeten, zu jagen, zu verhaften und zu foltern.

Keiner in unserer Sippe wollte damals wahrhaben, dass Djamschid Kommunist geworden war, Kommunisten hatte es bei uns noch nie gegeben. Man erzählt, er habe heldenmütig die Folterungen ertragen und sich nicht brechen lassen. Sein eisernes Schweigen zwang die Schergen, immer neue Folterkünste für ihn zu ersinnen. Immer präziser, immer grausamer wurden die Methoden, ihm Schmerz zuzufügen. Als alles ohne Erfolg blieb, wurde er von einem Kerker zum nächsten weitergereicht.

Dass seine Kräfte schwanden und er bald nur noch ein Schatten seiner selbst war, mag sehr wohl auf die Misshandlung und den Hunger in den Gefängnissen zurückzuführen sein. Einige seiner Mithäftlinge berichteten von einem plötzlich einsetzenden, drastischen Gewichtsverlust.

Ich erinnere mich nur undeutlich, wie er vor seiner Verhaftung aussah. Die wenigen Fotos des Fünfzehn- und Sechzehnjährigen zeigen einen pummeligen, pausbäckigen Jungen. Sein Lächeln zeugt von einer gesunden und unbeschwerten Kindheit. Einige, die ihn schon zu dieser Zeit kannten, neigen zur Ansicht, dass ihn nicht der Freiheitsdrang oder der Glaube an soziale Gerechtigkeit dazu bewegte, Kommunist zu werden, sondern eher die Sehnsucht nach einer Gesellschaft, in der es freie Liebe gibt, in der das Verhältnis zwischen Männern und Frauen nicht tabuisiert und streng kontrolliert wird. Wie dem auch sei, im Gefängnis schwanden Djamschids Kräfte, und er verlor dramatisch an Gewicht. Die Baathisten, für die ein Menschenleben keinen Pfifferling wert ist, ließen sich davon nicht beeindrucken. Sie sahen darin vielmehr einen Erfolgsbeweis der ausgeklügelten Methoden, mit denen sie, unterstützt von ausländischen Spezialisten, ihr Folterprogramm perfektioniert hatten.

Niemand weiß genau, an welchem Tag der Wind Djamschid zum ersten Mal verwehte. Fest steht aber, dass sein erster Flug in einem Sondergefängnis in Kirkuk begann.

In einer kalten Winternacht holte ihn ein Wärter aus der Zelle, um ihn den Ermittlern vorzuführen. Er wusste: Bei jedem dieser Verhöre, mit den üblichen Prügeln und Quälereien, konnte sein letztes Stündchen schlagen. Um zum Folterraum zu gelangen, musste er einen großen Hof überqueren. Auf diesem Weg nun geschah, woran er sich auch später noch glasklar erinnerte und wovon er gern in leuchtenden Farben erzählte. Er war in Begleitung des arabischen Sicherheitsbeamten. Ein hochrangiger Offizier, der in einem langen Militärmantel am anderen Ende des Hofs vor einer Tür stand, verlangte den großen Schlüsselbund, den der Wärter bei sich trug. Der Offizier befahl ihm, herüberzukommen und ihm die Tür aufzusperren. Der Wärter, nach Djamschids