1. Kapitel
Der November fegte die letzten Blätter von den Bäumen und an den ortsnahen Straßen standen Schilder, die den Weihnachtsbaumverkauf direkt ab Feld bewarben. Das kleine Städtchen Oberherzholz präsentierte sich winterlich grau zwischen Wäldern und Feldern im Münsterland und es lag Schnee in der Luft.
Charlotte Kantig fuhr ihr Auto vor die Garage ihrer Doppelhaushälfte. Zum ersten Adventswochenende erwartete sie Sohn und Schwiegertochter mit ihren dreijährigen Zwillingen Annabell und Marvin. Charlotte hatte deshalb einen regelrechten Großeinkauf gestartet. Als sie schließlich die Einkäufe verstaut hatte, ging sie nach nebenan.
Die andere Hälfte des Hauses gehörte ihrer Schwester Isabella Steif, die durch ihre kühle, unerschrockene Art etwas streng wirkte, aber wie Charlotte ein gutes Herz hatte und immer hilfsbereit war. Beide Frauen waren über sechzig und pensionierte Lehrerinnen.
Charlotte klingelte, obwohl sie einen Schlüssel hatte, doch nur Isabellas Labradorrüde Balu gab durch ein Bellen kund, dass jemand zu Hause war. Charlotte zögerte nicht lange, schloss auf und ging hinein, denn sie hatte für ihre Schwester Eier mitgebracht.
Isabella kämpfte mit einer heftigen Erkältung, die sie mit alten Hausmitteln behandelte. Charlotte rümpfte die Nase, als sie hereinkam und den Hund begrüßte, der freudig auf sie zukam.
»Puh, bei dir stinkt es im ganzen Haus nach Kampfer und Eukalyptus, Isabella«, sagte sie, als sie die Küche betrat. »Diese Hausmittelchen bringen doch nichts, geh endlich zum Arzt. Vielleicht hast du dich mit dem Corona-Virus angesteckt.«
Isabella saß am Küchentisch. Sie hatte sich einen dicken Schal um den Hals gewickelt, der kaum ihr schmales Gesicht herausschauen ließ. Ihre Augen waren gerötet und ihre Hände eiskalt, trotz der drei Pullover, die sie übergezogen hatte. Vor sich hatte sie eine Schüssel mit heißem Kamillentee stehen, den sie gerade inhaliert hatte.
»Corona ist es nicht, ich bin schließlich geimpft und der Schnelltest war negativ«, krächzte Isabella. »Eine Erkältung braucht ihre Zeit. Du weißt doch Charlotte, mit Arzt eine Woche und ohne Arzt acht Tage.«
Das war typisch Isabella. Halsstarrig und unbelehrbar.
»Du experimentierst doch schon ewig damit herum«, sagte Charlotte kopfschüttelnd. »Du hast noch immer eine Stimme wie ein verrostetes Scheunent