Kapitel 1
»Heribert, mach auf!«
Panisch hämmerte Mira auf die Klingel ihres Hauses.
»Heribert, um Gottes willen mach auf!«
Immer wieder drehte sie sich um, voller Angst, ihr könnte jemand gefolgt sein. Als sich endlich die Tür öffnete, warf sie sich ihrem völlig verdutzten Mann an die Brust.
»Wo kommst du denn her?« Er packte ihre Arme, die ihn angstvoll umschlangen, und versuchte, sich aus ihrem Griff zu befreien. Mira begann zu schluchzen und klammerte sich nur noch enger an ihn.
»Warum klingelst du mich aus dem Bett? Hast du keinen Schlüssel? Weißt du eigentlich, wie spät es ist?«
Es war ihr in diesem Moment egal, was Heribert sagte, Hauptsache, sie war nicht mehr schutzlos dem namenlosen Grauen auf der Straße ausgesetzt. Erst als er die Tür von innen abschloss, beruhigte sie sich und ließ ihn los. Benommen betrachtete sie das zornige Gesicht ihres Mannes, dessen Mund immer weitere Vorwürfe ausspuckte, und fühlte sich unglaublich schuldig.
Ihr fiel nicht ein einziger mildernder Grund ein, den sie zu ihrer Rechtfertigung hätte anbringen können, nur dass der dicke Willy, einer der hiesigen Bestatter, seinen fünfzigsten Geburtstag im Kleinen Wirtshaus gefeiert und in Spendierlaune eine Lokalrunde nach der anderen ausgegeben hatte und sie aufgrund der zwei Gläser Rotwein und der zwei bis drei Mispelchen einfach die Zeit vergessen hatte.
»Du willst also sagen, dass du hickehackevoll warst, als du dich so spät in der Nacht, um nicht zu sagen am frühen Morgen, auf den Weg nach Hause gemacht hast?«, fuhr Heribert sie an.
Auch das musste sie eingestehen. Was sie ihm nicht beichtete, war, dass es durchaus noch einige Mispelchen mehr gewesen sein könnten, aber sie wollte nicht zusätzlich Wasser auf die Mühlen seiner Erregung geben. Mit steigendem Alkoholkonsum war die Runde der Gäste immer lauter und lustiger geworden, ja zum Schluss steigerte sich die Stimmung gar ins Übermütige, als ein Bekannter den Bestatter süffisant fragte: »Na Willy, wie gehen denn die Geschäfte?«, und er dies nach kurzem Überlegen mit dem Satz kommentierte: »Es könnten ein paar mehr sein.«
Die Gäste waren bei diesem an sich harmlosen Satz zunächst still, weil sie ihn nicht gleich begriffen, um im nächsten Moment in einen gigantischen Lachanfall auszubrechen, der das kleine Lokal in Wellen durchschüttelte.
Auch Mira, die auf einem Barhocker vor dem Tresen saß, lachte vor sich hin. »Es könnten ein paar mehr sein.« Soviel Sprachwitz hätte sie dem eher einfältigen Willy gar nicht zugetraut. Nach zwei Gläsern Rotwein, die sie aus Vernunftgründen immer mit einem kleinen Selters kombiniert hatte, war sie auf Einladung von Willy zum Spezialtrunk des Wirtes gewechselt, den er »Mispelchen« nannte. Das Heimtückische an diesem Getränk war, dass die in ihrem süßen Sirup liegende Mispel den hochprozentigen Calvados, in den Uli, der Wirt des Kleinen Wirtshaus, sie tauchte, so elegant kaschierte, dass Mira nicht merkte, wie sie der Alkohol langsam, aber wirkungsvoll alle Vorsicht vergessen ließ.
Sie war heute wieder ohne ihren Ehemann dort gewesen. Das Verhältnis zu Heribert war in letzter Zeit etwas angespannt.
An diesem Abend war auch ein ihr flüchtig bekannter Rechtsanwalt unter den Gästen. Er war nicht häufig bei Uli. Schon immer hatte sie den großgewachsenen, schlanken Mann mit seinen blonden, etwas längeren Haaren und seiner gediegenen braunen Hornbrille äußerst attraktiv gefunden. Im Laufe des Abends und der wechselnden Sitzplatzierungen stand er auf einmal direkt neben ihr. Sie begrüßten sich freundlich und wechselten Belanglosigkeiten, während seine Augen ein unverhohlenes Interesse an i