Gerüchte zum Frühstück
Ich niese.
»Geh fott! Du hast schon wieder keine Schuhe an!«, schimpft meine Mutter. »Du wirst dich noch erkälten!«
Ich laufe zu Hause – seit ich 15 bin – barfuß herum, da man mit Beginn der Pubertät Hausschuhe doof findet. Und habe mich trotzdem noch nie erkältet. Jedenfalls nicht vom Zu-Hause-ohne-Schuhe-Herumlaufen. Sonst war ich natürlich schon mal erkältet. Dann hatte ich aber auch das Bedürfnis nach warmen Füßen und habe wenigstens Socken angezogen. Hausschuhe finde ich nach wie vor so eher mittel.
Ich sitze auf dem Balkon meiner Eltern in der hessischen Idylle meines Geburtsortes. Eigentlich ist Traunbach eine Kleinstadt, obwohl es weder ein Kino noch ein Theater gibt. Das Jugendzentrum hat vor Jahren zugemacht, und das Bürgerhaus wird selbst von den Tourneen abgehalfterter B-Schauspieler nicht mehr bedacht. Ich glaube, es liegt am Asbest. Also im Bürgerhaus. Aber immerhin haben wir eine Eisdiele – ich schätze, auch das nur, weil dort die italienische Mafia ihr Geld wäscht. Wie kann man sich sonst erklären, dass der Laden jede Saison unter einem neuen Namen, aber mit gleicher Mannschaft wieder öffnet.
Überhaupt: An Gaststätten und Kneipen mangelt es Traunbach nicht – wenigstens hat man sich den Sinn für Esskultur bewahrt. Oder Trinkkultur. Je nach Etablissement. Wahrscheinlich findet man deshalb immerhin auch Geschäfte, die den täglichen Bedarf an Käse, Wurst, Obst, Gemüse und Wattestäbchen abdecken – die Eingeborenen essen und trinken halt gern. Und doch ist es eher ein Dorf als eine Kleinstadt: Jeder kennt jeden. Und wenn man jemanden nicht kennt, heißt das noch lange nicht, dass man nicht trotzdem eine Meinung zu allem und jedem hat.
Ich sitze also in der Sonne, es ist Mai, aber die Temperaturen erinnern bereits an Juli, sodass ich eigentlich auch deshalb keinen Grund dafür sehe, warum ich im »Hochsommer« mit Schuhen rumlaufen sollte – auch wenn der Kalender noch steif und fest behauptet, es wäre später Frühling. Es ist ein herrlicher Samstagmorgen. Wir sind gerade dabei, ausgiebig zu frühstücken, und jetzt muss ich noch einmal gähnen.
Auch wenn ich inzwischen nur noch ab und zu an den Wochenenden zu Besuch da bin, hat sich das samstägliche Frühstücks-Weck-Ritual meines Vaters nicht geändert. Meistens werde ich bereits vom Knarren unserer Treppenstufen das erste Mal gegen halb acht wach. Spätestens zu dieser Uhrzeit hält es meine Eltern nicht mehr in der Horizontalen: Senile Bettflucht. Papa kann dann mit Duschen und Frühstückstischdecken noch eine Dreiviertelstunde rausschinden, bevor er spätestens um halb neun singend in mein Kinderzimmer in den zweiten Stock getapert kommt, den Rollladen hochzieht und fragt: »Frühstückst du mit, oder willst du weiterschlafen?«
»Hab ich eine Wahl?«
»Du musst ja nicht. Kannst auch weiterschlafen«, brummt er ein bisschen eingeschnappt.
Seit Jahren führen wir nahezu den gleichen Dialog. Ich seufze ein bisschen zu theatralisch, blinzle und rapple mich hoch. Das Samstagmorgen-Frühstück genieße ich immer besonders. Der Tag ist noch ganz jung, es gibt frische Brötchen vom Bäcker, der noch selbst knetet, statt polnische Teigrohlinge aufzubacken, und ein gekochtes Ei. Und das mit der frühen Uhrzeit werden wir wohl in diesem Leben nicht mehr ändern können.
»Juhuuuuu«, schreit es von der Straße zu uns auf den Balkon hoch. »Habt Ihr noch ’n Weck für mich?«
Es ist Carla.
»Komm hoch. Warte, ich mach dir auf«, schreit ihr meine Mutter entgegen.
»Morgenstund hat Gold im Mund«, murmelt mein Vater in seinen nicht vorhandenen Bart, und