Kapitel zwei
Sie hatte diverse Möglichkeiten, mit Ragnar Calliesen Kontakt aufzunehmen. Entweder probierte sie es über die Firma seines Vaters, da sie schließlich dort arbeitete, oder sie fragte jemanden nach seiner Telefonnummer – wen? –, oder sie schaute ins Telefonbuch. Letzteres war schnell erledigt. Lucie entdeckte keine Privatnummer, dafür die der Werft in Borgwedel – Kalleboot nannte sich die und neben der Nummer stand R. Calliesen.
Um diese Uhrzeit arbeitete niemand mehr, darum konnte sie sich den Versuch, jetzt noch durchzuklingeln, sparen. Trotzdem tippte Lucie die Ziffernfolge ein, wenn auch wie jemand, der lange suchen muss, wo sich die einzelnen Zahlen befinden. Mit wackelnden Zehen unter dem Kissen lauschte sie dem Summton. Einmal Klingeln, zweimal, dreimal, sie durfte wohl getrost ihren Versuch abbrechen und das Problem auf Morgen verschieben.
»Ja? Hier spricht Ragnar Calliesen.«
»Oh.« Sie verschluckte sich. Prustend stieß sie hervor: »’tschuldigung, oh, verflucht!«
Am anderen Ende blieb es ruhig, während Lucie vor Atemnot die Tränen kamen.
»Verdammt!«, wetterte sie, als sie genug Luft dafür übrig hatte. Dann verschluckte sie sich fast wieder, weil ihr aufging, wie ungehobelt sie klang. Oberpeinlich!
»Soll ich einen Notarzt rufen? Wohin muss ich ihn schicken?«
»Nein-nein, geht schon.« Selten war sie dankbarer gewesen, dass sie nur durch eine Telefonleitung mit dem unsichtbaren Gegenüber verbunden war. Zum Glück klang der Hustenreiz ab. »Ich habe mich verschluckt.«
»Tatsächlich?«
Die Ironie war unüberhörbar und das ärgerte Lucie. Fenja hatte nie erwähnt, dass Ragnar ein Spötter war wie Linus. An ihren Bruder zu denken stärkte Lucie, schließlich war sie bei ihm durch eine harte Schule gegangen, darum konnte sie mit neutralem Tonfall antworten. »Ich habe nicht damit gerechnet, dass Sie noch arbeiten.«
»Trotzdem rufen Sie mich an? Dann muss es aber was ganz Wichtiges sein.«
»Ja, Es geht um Fenja Jürgens.«
Ragnar stieß etwas aus, das an das ›Grmpf‹ aus einem Comic erinnerte. Offenbar hatte sie ihn überrumpelt.
»Wir sind uns vorhin auf der Beerdigung begegnet.«
»Tatsächlich?« Kein süffisanter Unterton mehr, sehr gut. Doch ehe sie auftrumpfen konnte, fügte er hinzu: »Sie sind die junge Frau mit den straßenköterblonden, schulterlangen Kunstlocken.«
»Meine Locken sind angeboren!«, entrüstete sich Lucie und hätte auch die Bezeichnung straßenköterblond moniert, wenn Ragnar sie hätte zu Wort kommen lassen.
»Aber Sie sind es; die Einzige, die Fenja nicht von früher kennt.«
»Dann waren die anderen echt alle Schulkameraden?«
»Und vom Handballclub und von ihrem alten Tanzverein, ja.«
Ragnar verstummte