Véronique Polito
Neuausrichtung der Bildungspolitik in der Schweiz
Wie in allen Industrieländern wurde das Bildungswesen in der Schweiz in den letzten Jahrzehnten stark ausgebaut. Im Jahr 2009 flossen mehr als 16 Prozent der Ausgaben deröffentlichen Hand– das heisst 30 Milliarden Franken– in die Bildung. Damit sind dieöffentlichen Bildungsausgaben im Vergleich zum Jahr 1990 um 40 Prozent gestiegen.1 Rechnet man die Ausgaben für Forschung mit ein, flossen 2009 zusätzlich etwa 4,5 Milliarden in diesen Bereich.2 Die Ausgaben für das Bildungswesen sind nach denjenigen für das System sozialer Sicherung die zweithöchsten innerhalb des Service Public.
Die grossen Anstrengungen deröffentlichen Hand scheinen nicht vergebens zu sein. Das Bildungssystem der Schweiz gilt heute nicht nur im Inland, sondern auchüber die Grenzen hinaus als beispielhaft. Der Erfolg lässt sich unter anderem am Wettbewerb um EU-Fördergelder für renommierte Forschungsprojekte belegen. Auf dem Gebiet der neuen und zukünftigen Technologien errang die Schweiz kürzlich Spitzenplätze für sogenannte Flaggschiff-Projekte: In der Endauswahl waren an fünf von sechs Projekten Forschungsgruppen der beiden ETH beteiligt, an drei davon führend.3 Schweizer ForscherInnen holen im internationalen Vergleichüberdurchschnittlich viel Fördergeld. Die Schweiz hat denn auch die Weiterführung ihrer Beteiligung an den EU-Forschungsprogrammen mit dem guten«return of investment» begründet und wird bis ins Jahr 2020 noch 4,7 Milliarden Franken in sie investieren.
Das Berufsbildungssystem weckt ebenfalls immer mehr Interesse in Europa. Die internationale Krise mit den rekordhohen Jungendarbeitslosenquoten in Frankreich und in den Ländern Südeuropas haben die duale Berufsbildung, wie sie in der Schweiz und in wenigen europäischen Staaten existiert, ins Rampenlicht gerückt.4 Im europäischen Vergleich schneidet die Schweiz sehr gut ab: Der Anteil Jugendlicher ohne nachobligatorische Ausbildung ist hier am kleinsten.5 Die Jugendarbeitslosigkeit liegt mit ca. 6 Prozent fast 10 Prozentpunkte unter dem Durchschnitt der OECDLänder.6 Das ist einerseits auf die gute Wirtschaftslage, andererseits auf das gut ausgebaute und arbeitsmarktorientierte Berufsbildungssystem zurückzuführen. Der Ausbau des Lehrstellenmarkts im letzten Jahrzehnt und die Weiterentwicklung der Berufsfelder haben dazu beigetragen, das Problem der Jugendbeschäftigung der Neunzigerjahre zu entschärfen. Dadurch wurde die wirtschaftliche und gesellschaftliche Integrationskraft des Bildungssystems in der Schweiz verstärkt.
Die Bildungsexpansion der letzten zwanzig Jahre ist insgesamt sehr positiv zu bewerten.«Mehr Bildung» ist aber kein Credo an sich und führt nicht unbedingt zu mehr Wohlstand. Eine neue Studie der Internationalen Arbeitsorganisation zieht eine alarmierende Bilanz zur Jugendbeschäftigung.7 Im EU-Raum sind der gute Bildungsstand und die hohe Tertiärabschlussquote der jungen Generationen keine Garantie für eine erfolgreiche Eingliederung in den Arbeitsmarkt. Der Graben zwischen den Qualifikationen der Jungen und den tatsächlichen Beschäftigungsmöglichkeiten hat sich in vielen Ländern seit 2002 geweitet: Die jungen Stellensuchenden sind oftüberqualifiziert und gezwungen, Angebote anzunehmen, für die ein tieferes Ausbildungsniveau genügt hätte. Dies wiederum verschlechtert die Möglichkeiten der wenig qualifizierten Jugendlichen auf dem Arbeitsmarkt.
Die Schweiz blieb bislang vom Phänomen derÜberqualifizierung noch verschont. Die stark differenzierte Bildungslandschaft, die ständig weiterentwickelte Berufsbildung und die zunehmende Durchlässigkeit d