: Lucy Clarke
: You Let Me In Roman
: Piper Verlag
: 9783492605977
: 1
: CHF 9.90
:
: Krimis, Thriller, Spionage
: German
: 416
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Sie muss ihre Vergangenheit um jeden Preis schützen Nichts fühlt sich richtig an, seit Elle in ihr spektakuläres Haus an Cornwalls Küste für eine Woche an Fremde vermietet hat. Sie hört Geräusche in der Nacht, Dinge wurden bewegt, jemand war in ihrem abgeschlossenen Schreibzimmer, und in ein Tischbein ist »Lügnerin« eingeritzt. Ihr wahrgewordener Traum von einem Platz zum Schreiben am Meer, den sie sich nach dem überwältigenden Erfolg ihres ersten Romans geschaffen hat, wird zum Albtraum. Bildet Elle sich alles nur ein, wie ihre Schwester Fiona meint, oder hat es wirklich jemand auf sie abgesehen? Und kennt nun ihr dunkelstes Geheimnis ... »Das Buch ist fesselnd, weil sich die Angst, die Ungewissheit und die Beklemmung auf den Leser überträgt - beste Unterhaltung!« - Radio Euroherz 

Lucy Clarke studierte Englische Literatur in Cardiff, bevor sie sich ganz dem Schreiben widmete. Ihre Romane, in denen sie atemberaubende Spannung mit den schönsten Urlaubsorten der Welt verbindet, haben sich millionenfach verkauft und wurden in über 20 Sprachen übersetzt. Wenn die Autorin nicht unterwegs ist, um in fernen Ländern zu recherchieren (der liebste Teil ihrer Arbeit!), lebt sie mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern an der Südküste Englands.

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Elle


Was im ersten Kapitel deines Romans geschieht, sollte wie ein Pfeil auf das letzte zielen.

Die Schriftstellerin Elle Fielding

In der Kurve der schmalen Straße verlangsame ich das Tempo und spüre, wie der Wagen über Furchen und Rinnen holpert; unter den Rädern spritzt Kies auf.

Während die Straße immer weiter ansteigt, recke ich mich und versuche, über die Hecke hinweg einen Blick aufs Meer zu erhaschen. Im gedämpften Licht der Abenddämmerung sehe ich die Schaumkronen auf dem Wasser, sehe, wie sich das Meer im Wind kräuselt. Mein Atem beruhigt sich allmählich.

Ich schalte das Radio aus, weil ich nicht möchte, dass mir die Stimme des Moderators den nächsten Moment verdirbt. Den gesamten Weg von London nach Cornwall über habe ich mich darauf gefreut.

Als ich um die Ecke biege, liegt es vor mir: das Haus am Rand der Klippen, das wie ein Versprechen am Ende des Weges auf mich wartet.

 

Nachdem ich in die Einfahrt gebogen bin, drehe ich den Zündschlüssel um und bleibe einen Moment sitzen, lausche dem Geräusch des tickenden Motors.

Es fühlt sich immer noch vollkommen unwirklich an, dass dies der Ort sein soll, an dem ich leben werde.

Bei meinem ersten Treffen mit dem Architekten hatte ich keinerlei konkrete Vorstellungen von dem Haus, abgesehen von der Anzahl der Zimmer und meinem Wunsch nach einem Platz zum Schreiben. In den darauffolgenden Monaten verwoben sich die unzusammenhängenden Ideen zu der Vision, die nun mit ihren drei Stockwerken auf die windgepeitschte Bucht hinabschaut.

Das Haus ist taubengrau gestrichen und hat große Fenster mit Naturholzrahmen. »Modern interpretierte Küstenarchitektur«, hat der Architekt gesagt. Ich bin froh, dass die Holzverschalung schon ein wenig von ihrer kruden Neuheit verliert und die salzige Luft an den Fenstern nagt. Die Strenge der Fassade muss allerdings noch ein wenig abgemildert werden. Vielleicht sollte ich eine Glyzinie um den Eingang ranken lassen – falls sie den kräftigen Seewind verträgt.

Ich habe noch nie in einem eigenen Haus gelebt. Oder in einer eigenen Wohnung. Mit meiner Mutter und meiner Schwester habe ich immer zur Miete gewohnt. Wörter wie »Haus« oder »Hypothek« waren etwas für andere, nicht für uns.

Der Seewind reißt die Wagentür auf, als ich aussteige. Mein Kleid bläht sich und bleibt an meinen Oberschenkeln kleben.

Unter meinen Füßen knirscht der Kies, als ich die Einfahrt überquere. Nachdem ich den Koffer auf die steinerne Türschwelle gehievt habe, krame ich in den Tiefen meiner Handtasche nach dem Hausschlüssel. Ich gehöre zu den Leuten, die immer zu viel mit sich herumschleppen: Portemonnaie, Handy, Stifte, einen Roman, mein Notizbuch.

Ein Notizbuch ist immer dabei.

Als ich den Schlüssel ins Schloss stecke, zögere ich.

Es hat etwas Beklemmendes, nach Hause zu kommen, wenn Fremde dort gewohnt haben. Meine Entscheidung, das Haus über Airbnb zu vermieten, hat mir in den zwei Wochen in Frankreich keine Ruhe gelassen; gleich zwei Mal bin ich auf der Suche nach einem Funknetz auf die Dachterrasse des Bauernhauses gestiegen. Gott sei Dank haben die Mieter keinerlei Hilferufe ausgesandt, und meine Schwester auch nicht.

Als ich auf der Schwelle stehe, beschleicht mich das ungute Gefühl, dass ich die Mieter noch antreffen könnte. Die Mutter – eine attraktive Frau mit einer teuren Frisur, wie ich dem Airbnb-Profil entnehmen konnte – könnte an meinem eckigen Spülbecken stehen und mit ihren blassen Händen einen Plastikbecher unter das fließende Wasser halten. Hinter ihr sehe ich ein Kind in einem Kinderstühlchen sitzen und sich mit pummeligen Fingern Erdbeeren in den Mund stopfen. Am Küchentresen steht der Vater und schneidet Toastbrot in kleine Stücke; er wird sie auf einer meiner Steingutplatten anrichten, bevor er sie zu einem drei-, vierjährigen Mädchen trägt, das sie sorgsam mit der Fingerspitze abzählen wird.

Musik ist zu hören. Stimmen und Gelächter. Der Ausfallschritt von Eltern, die über ein Spielzeugauto herumgehen. All der Lärm und die Energie und die Bewegung, die von einer Familie ausgehen, erfüllen mein Haus.

Mein Herz zieht sich zusammen: Es sollte meine Familie sein.

 

Als ich die Haustür öffne, bemerke ich sofort, dass es anders riecht. Erdig, feucht, vermischt mit den Gerüchen einer anderen Küche.

Der Wind zerrt an der Tür und lässt sie mit einem bedrohlichen Knall hinter mir ins Schloss krachen.

Dann Stille.

Niemand, dem ich etwas zurufen könnte. Niemand, der mich begrüßt.

Ich lege meine Handtasche auf die Eichenbank neben die ordentlich aufgestapelte Post. Als mein Blick auf die Rechnung ganz oben fällt, schaue ich schnell weg. Ich schlüpfe aus den Schuhen und gehe barfuß in die Küche.

Meer und Himmel füllen die Fenster. Selbst in der Abenddämmerung ist das Licht unglaublich. Zwei Möwen lassen sich sorglos in der Brise treiben, über der schäumenden See. Das ist der Grund, warum ich mich in dieses Haus verliebt habe, ursprünglich ein Fischerhaus, das seit den Sechzigerjahren nicht mehr renoviert wurde.

Irgendwo habe ich mal gelesen, die Schönheit des Meerblicks bestehe darin, dass das Meer sich unentwegt verändert und niemals gleich ist. Ich weiß noch, dass ich den Satz für übertrieben hielt. Dabei ist er wahr.

Ich reiße den Blick vom Wasser los und schaue mich in der Küche um. Die lange Granitplatte ist geputzt und aufgeräumt. Unter einem Tontopf mit Basilikum steckt ein Zettel. Die Handschrift meiner Schwester. Ich lese:

Willkommen daheim! Alles lief bestens mit Airbnb. Komm auf ein Glas Wein rйber, wenn du dich wieder eingelebt hast. Fiona x

 

Ich habe sie vermisst. Und Drake auch. Ich werde sie morgen besuchen, dann können wir am Strand spazieren gehen oder irgendwo zu Mittag essen, in einem Pub mit Spielecke, damit Drake herumlaufen kann.

Im Moment reichen meine Kräfte nur noch aus, um mir ein Buch zu schnappen und ein langes Bad zu nehmen.

Ich hole ein Glas aus dem Regal. Als ich es unter den Wasserhahn halten will, bewegt sich etwas an meinen Fingerspitzen, und ich lasse es in die Spüle fallen. Eine Spinne mit dicken Beinen krabbelt zwischen den Scherben hervor und hockt sich in den Ausguss.

Mich fröstelt. Spinnen bewegen sich so eigentümlich ruckartig mit den vielgliedrigen Beinen. Mit einem Seufzer mache ich mich daran, die Spinne aus dem Haus zu entfernen. Ich fange sie mit einem anderen Glas ein und gehe zur Haustür.

Ich steige barfuß die Treppe hinunter. Die Steinplatten sind eiskalt. Als ich auf den Kies trete, zucke ich zusammen, gehe aber die Einfahrt bis zum Ende. Dieses Mistvieh wird nicht in mein Haus zurückkehren. Ich stelle das Glas hin, stoße es mit dem Fuß um und springe schnell zurück. Ein paar Sekunden lang verharrt die Spinne reglos, dann eilt sie in einem Gewirr schwarzer Beine davon.

Ich mache gerade rechtzeitig kehrt, um noch zu sehen, wie die Haustür von einer Böe zugeknallt wird.

»Nein!« Ich laufe den Weg zurück, packe den Türgriff und rüttele vergeblich daran, schlage mit den Händen gegen die Tür. Ich bin wütend auf mich selbst.

Meine Handtasche steht auf der Eichenbank, Schlüssel und Handy befinden sich im Reißverschlussfach. Meine Jacke hängt am Haken.Idiotin!

Fiona hat einen Ersatzschlüssel, aber ihr Haus liegt einen Fußmarsch von einer halben Stunde entfernt. Barfuß und ohne Jacke kann ich den Weg im November nicht bewältigen; vermutlich wäre ich erfroren, bevor ich dort ankäme.

Ich schaue über die Schulter zu dem Bungalow, der hinter meinem Haus auf der Klippe kauert, dem...