: Terézia Mora
: Die Liebe unter Aliens Erzählungen
: Luchterhand Literaturverlag
: 9783641200411
: 1
: CHF 8.10
:
: Erzählende Literatur
: German
: 272
: DRM
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Ausgezeichnet mit dem Georg-Büchner-Preis 2018.

Ein Ausflug ans Meer soll ein junges Paar zusammenführen. Ein Nachtportier fühlt sich heimlich zu seiner Halbschwester hingezogen. Eine Unidozentin flieht vor einer gescheiterten Beziehung und vor der Auseinandersetzung mit sich selbst. Ein japanischer Professor verliebt sich in eine Göttin.

Kunstvoll erzählt Terézia Mora in »Die Liebe unter Aliens« von Menschen, die sich verlieren, aber nicht aufgeben, die verloren sind, aber weiter hoffen. Wir begegnen Frauen und Männern, die sich merkwürdig fremd sind und zueinander finden wollen. Einzelgängern, die sich ihre wahren Gefühle nicht eingestehen. Träumern, die sich ihren Idealismus auf eigensinnige Weise bewahren. Mit präziser Nüchternheit spürt Mora in diesen zehn Erzählungen Empfindungen nach, für die es keinen Auslass zu geben scheint, und erforscht die bisweilen tragikomische Sehnsucht nach Freundschaft, Liebe und Glück.

Terézia Mora wurde 1971 in Sopron, Ungarn, geboren und lebt seit 1990 in Berlin. Für ihren Roman »Das Ungeheuer« erhielt sie 2013 den Deutschen Buchpreis. Ihr literarisches Debüt, der Erzählungsband »Seltsame Materie«, wurde mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis ausgezeichnet. Für ihr Gesamtwerk wurde ihr 2018 der Georg-Büchner-Preis zugesprochen. Terézia Mora zählt außerdem zu den renommiertesten Übersetzer*innen aus dem Ungarischen.

Fisch schwimmt, Vogel fliegt

Der junge Mann war vielleicht 18, der alte ist gar nicht alt, er ist erst 57, er sieht nur aus, wie manch anderer mit 75. Alt gewordenes herzförmiges Kindergesicht. Ehemals große Augen und ein spitzes Kinn, Nasolabialfalten und Krähenfüße, aber so welche, die seitlich am Gesicht hinunterfließen, als hätte ein stetes Rinnsal (wir wollen nicht sagen: aus Tränen) sein Bett in die Haut gegraben. Mit zarter Hand so lange darüber streichen, bis sie weggehen. Falten gehen niemals weg. Streicheln ist dennoch niemals unnütz, aber der Mann, der älter ist, als er aussieht, hat niemanden, der bzw. die ihn streichelt. Es gibt einige Menschen, denen er entfernt bekannt ist, diese nennen ihn Aug in Auge Hellmut, hinter seinem Rücken Marathonmann. Leute aus der Nachbarschaft, die man sporadisch trifft, zum Beispiel beim Mittagstisch in einer traditionellen Eckgaststätte (von denen es immer weniger gibt etc.). Dort wechselt man einige Worte, nichts Tieferes. Marathonmann antwortet ohnehin nur, wenn er gefragt wird, höflich und meist knapp. Ein Pensionist der Bahn, ein ehemaliger Schaffner, warum frühverrentet, keiner fragt. Er tut nichts Benennbares, dennoch ist klar, dass er ein Sonderling ist, und obwohl das kein offiziell anerkannter Grund für eine Frühverrentung ist, nehmen alle an, dass es etwas damit zu tun hatte. Er kommt nur zum Mittagstisch, wenn es Königsberger Klopse gibt, etwas anderes hat er hier noch nie gegessen. Den Rest seiner Tage lebt er von Kartoffeln mit Quark oder Speck. Als Dessert arme Ritter. Vielleicht muss er sparsam sein, vielleicht ist es seine Passion. Vielleicht fühlt er sich in seinen grau verwaschenen Lumpen einfach wohler, als er es in sogenannter ordentlicher Kleidung täte. Er scheint nicht unglücklich zu sein. Das Gesicht eines traurigen Clowns, aber traurig ist er nicht. Ein lächelndes Hutzelmännchen in zu kurzen Hosen und einer grauen Mütze, die er, abgesehen von 30-Grad-Hitzetagen, jeden Tag des Jahres trägt. An den wenigen 30-Grad-Hitzetagen, die es hier gibt, trägt Marathonmann ein Vogelnest aus graublondem Haar auf dem Kopf, das aussieht, als hätte er lediglich die Mütze gewechselt. An dem Tag, um den es hier geht, ist Marathonmann mit Mütze unterwegs, grau in grau, der Einkaufsbeutel in seiner Hand hingegen ist kanarienvogelgelb. Der Boden des Beutels ist etwas schmutzig. Im Stoffbeutel, in eine Ecke gerutscht: Portemonnaie und Schlüsselbund. Warum er Portemonnaie und Schlüsselbund (vier Schlüssel: Tor, Briefkasten, Wohnung, Kellerverschlag) im Stoffbeutel trägt, wo doch seine graue Jacke drei Taschen hat, davon eine Innentasche: ein Rätsel. Das heißt: er trägt sie so, weil er arglos ist. Weil er sich in seinem Stadtteil, auf seiner Straße, in der er seit 57 Jahren wohnt, einkauft usw., sicher fühlt. Er schwenkt den Beutel sogar ein wenig, und vielleicht pfeift er auch vor sich hin. Letzteres ist nicht verbürgt, die Straße ist voll und laut, und Marathonmann spitzt häufig die Lippen, beim Zuhören, beim Nachdenken. Ich denke nach, sagt er. Und sogar: ich träume. Entschuldige, was hast du gesagt, ich war in Gedanken gewesen/ich habe geträumt. War gewesen. Und: Entschuldige. Bevor er den Spitznamen Marathonmann bekam, nannte man ihn den Träumer. Wer? Der Höfliche. Ach, der.

Vom jungen Mann sind nur die Kleidung und das Aussehen überliefert, und auch das nur ungenau, dabei kam er nicht, wie man annehmen könnte, von hinten. Er kam von vorne, sie sahen sich sogar kurz ins Gesicht, ein junges, glänzendes, mit dicken schwarzen Augenbrauen, und ein altes, graues, spitzmündig schmunzelndes, und dann, als sie auf gleicher Höhe waren, duckte sich der Junge, entriss dem Alten den Beutel und ran