: Ali Smith
: Die Zufällige Roman
: Luchterhand Literaturverlag
: 9783641197162
: 1
: CHF 6.40
:
: Erzählende Literatur
: German
: 320
: DRM
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Eine englische Familie macht Ferien in einem Sommerhaus in Norfolk. Der Vater Michael, ein Literaturprofessor, trifft sich wie gewohnt mit Studentinnen. Die Mutter Eve, eine erfolgreiche Autorin, versucht, ihre Schreibblockade zu überwinden. Die Kinder Magnus und Astrid leben in ihrer eigenen abgeschotteten Welt. Bis plötzlich Amber auftaucht, eine geheimnisvolle, charismatische Fremde, und das Leben dieser ganz normalen neurotischen Familie gehörig durcheinanderbringt.
Ausgezeichnet mit dem Whitbread Award für den besten Roman.

Ali Smith wurde 1962 in Inverness in Schottland geboren und lebt in Cambridge. Sie hat mehrere Romane und Erzählbände veröffentlicht und zahlreiche Preise erhalten. Sie ist Mitglied der Royal Society of Literature und wurde 2015 zum Commander of the Order of the British Empire ernannt. Ihr Roman »Beides sein« wurde 2014 ausgezeichnet mit dem Costa Novel Award, dem Saltire Society Literary Book of the Year Award, dem Goldsmiths Prize und 2015 mit dem Baileys Women's Prize for Fiction. Mit »Herbst« kam die Autorin 2017 zum vierten Mal auf die Shortlist des Man Booker Prize sowie auf Platz 6 der SWR-Bestenliste, für »Sommer« erhielt sie den George Orwell Prize. 2022 wurde Ali Smith mit dem Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur ausgezeichnet.

von etwas – wann genau ist das? Astrid Smart möchte es wissen. (Astrid Smart. Astrid Berenski. Astrid Smart. Astrid Berenski.) 5:04 auf dem mickrigen Radiowecker. Denn warum sagen die Leute immer, jetzt fängt der Tag an? Genaugenommen tut er das ja mitten in der Nacht, in einem Bruchteil der ersten Sekunde nach Mitternacht. Angefangen soll er aber nicht vor Morgengrauen haben, das Dunkel gehört noch zur vorigen Nacht, und Morgen wird es erst mit dem Licht, dabei war es genaugenommen Morgen, sobald es eben den Bruchteil der ersten Sekunde nach zwölf war, i. e. das Experiment, wo man etwas immer weiter verkleinert, etwa den Abstand zwischen dem Boden und einem Ball, den man darauf dopsen lässt, damit bewiesen werden kann, sagt Magnus, dass der Ball den Boden eigentlich nie berührt. Was Blödsinn ist, weil er selbstverständlich den Boden berührt, sonst würde er ja nicht dopsen, er hätte nichts, wovon er abdopsen könnte, und trotzdem kann man wissenschaftlich wirklich nachweisen, dass er es nicht tut.

Astrid zeichnet Morgengrauen auf. Sonst gibt es hier nichts zu tun. Das Dorf ist ein Dreckloch. Postamt, verwüstetes indisches Restaurant, Pommesbude, kleiner Kaufmannsladen, der nie offen hat, eine Stelle, wo Enten die Straße überqueren können. Die Enten haben doch tatsächlich einen eigenen Wegweiser! Es gibt einen Sofa-Großhändler namens Sofa so gut. Die Kirche hat auch einen eigenen Wegweiser. Außer einer Kirche und ein paar Enten ist hier nichts los, und dieses Haus ist das ultimative Dreckloch. Es ist mickrig. Den ganzen mickrigen Sommer über wird nichts los sein.

Sie hat jetzt neun Morgengrauen nacheinander auf der Mini-Kassette in ihrer Sony-Digicam. Donnerstag, 10. Juli 2003, Freitag, 11. Juli 2003, Samstag, 12., Sonntag, 13., Montag, 14., Dienstag, 15., Mittwoch, 16., Donnerstag, 17. und heute, Freitag, 18. Aber wann genau Morgengrauen ist, lässt sich nur schwer ausmachen. Auf dem Kameraschirm sieht man davon nur, dass die Außenwelt etwas deutlicher sichtbar wird. Bedeutet das dann, dass Anfang etwas damit zu tun hat, dass man etwas erkennt? Dass der Tag anfängt, sobald du aufwachst und die Augen aufmachst? Und wenn Magnus schließlich nachmittags aufsteht und sie ihn in dem Zimmer herumgehen hören, das in dem mickrigen Dreckloch von Haus seines ist, bedeutet das dann, dass der Tag immer noch anfängt? Ist der Anfang für jeden anders? Oder ziehen sich Anfänge nur immer weiter hin, über den ganzen Tag? Vielleicht ziehen sie sich ja auch rückwärts hin. Denn jedesmal, wenn du die Augen aufmachst, gab es ja einen Moment davor, als du sie zugemacht hast, und davor wieder einen anderen Moment, als du sie aufgemacht hast, und so immer weiter rückwärts durch alles Schlafen und alles Wachsein und durch so gewöhnliche Dinge wie Lidschläge bis zurück zum ersten Mal, wo du die Augen aufgemacht hast, was vermutlich ungefähr der Moment deiner Geburt ist.

Astrid kickt ihre Turnschuhe vor sich auf den Boden. Sie rutscht zurück über das grässliche Bett. Oder womöglich liegt der Anfang sogar noch weiter zurück als bis zu der Zeit, wo man sich im Mutterschoß befindet oder wie das heißt. Vielleicht ist der richtige Anfang der, wenn es damit losgeht, dass du dich zu einem Menschen ausbildest und wenn sich der weiche Stoff, aus dem deine Augen bestehen, gerade in dem harten Stoff bildet, aus dem dein Kopf wird, i. e. dein Schädel.

Sie betastet den Knochenbogen über ihrem linken Auge. Augen passen so genau in die Höhlung, in der sie sitzen, als wäre eins für das andere gemacht, Auge und Höhlung. Einmal hat sie ein Theaterstück gesehen, da war ein Mann, dem wurden die Augen ausgestochen, die L