Ann Kathrin Klaasen war schon auf dem Heimweg, als der Hilferuf eintraf. Im Muschelweg, nahe beimKrabbenkutter, seien die Schreie einer Frau gehört worden. »Hilfe, er bringt mich um!«, habe sie mehrfach gerufen.
Ann Kathrin fuhr gerade über die Norddeicher Straße. Sie wollte eigentlich noch einen Spaziergang an der Wasserkante machen, um nach diesem stressigen Tag runterzukommen.
Sie brauchte keine zwei Minuten bis zum Muschelweg. Sie parkte vor dem geschlossenen Imbiss und stieg aus. Lauschte in die Nacht.
Ein gutes Dutzend Spatzen stritt auf der Straße um die Krümelreste eines Fischbrötchens, das eine Möwe gestohlen und im Flug verspeist hatte.
Ann Kathrin sah sich nach den Touristen um, die angerufen hatten und angeblich auf der Straße vor dem Haus warteten. Das Ehepaar Ehrlich.
Herr Ehrlich war Mitte sechzig, stand da in Badelatschen und knielangen Boxershorts. Er trug ein olivfarbenes T-Shirt mit der Aufschrift:Freigänger.
Seine Frau war, im Gegensatz zu ihm, warm angezogen. Dicke Windjacke, Wanderschuhe, Wollmütze mit Ohrenschutz.
»Haben Sie angerufen?«, fragte Ann Kathrin Klaasen.
Die Frau nickte und deutete auf ein Ferienhaus. »Da!«
Herr Ehrlich wunderte sich: »Fährt die Polizei hier in Ostfriesland Twingo?«
»Nein«, antwortete Ann Kathrin, »normalerweise kommen wir mit dem Rad oder zu Fuß.«
Sie stieg über das Gartentor und ging auf die Haustür zu. Die Rollläden waren runtergelassen, aber zwischen den Lamellen schien Licht.
Ann klingelte zweimal. Eine Männerstimme schimpfte: »Bist du bescheuert? Warum klingelst du? Ich hab gut eine Stunde gebraucht, um den Kleinen schlafen zu legen.«
Ann Kathrin klopfte und rief: »Aufmachen! Polizei!«
Sie war nicht bereit, sich abwimmeln zu lassen. Sie kannte die Tricks gewalttätiger Männer, die Polizei loszuwerden.
Sie klingelte noch einmal und klopfte gleichzeitig: »Aufmachen! Polizei!«, wiederholte sie laut und deutlich.
»Verarschen kann ich mich selber! Hau ab, du blöde Ziege!«
Es wurde also ernst. Ein Adrenalinschub vertrieb Ann Kathrins Müdigkeit. Sie war sofort wieder hellwach.
Die Ehrlichs traten näher ans Tor, um alles mitzubekommen.
Ann Kathrin forderte bei Marion Wolters in der ihr eigenen Art Verstärkung an: »Ich glaube, hier bittet jemand um ein Zimmer für die Nacht. Haben wir noch eines in den gekachelten Räumen frei?«
Das Übernachtungsangebot wurde durchaus als Drohung verstanden. Der Schlüssel drehte sich im Schloss.
Noch bevor die Tür sich öffnete, brüllte jemand: »Ich hab die Faxen dicke! Penn doch bei deinen versnobten Single-Freundinnen!«
Ann Kathrin blickte in das verblüffte Gesicht eines zornigen Mannes. Er hatte klare, blaue Augen, trug ein Muscle-Shirt und Flip-Flops. Sein Atem roch nach Rotwein, er hielt ein halbvolles Glas in der Hand.
»Wer sind Sie? Was wollen Sie? Wenn Sie zu Ingrid wollen, die ist nicht da.«
»Sehen Sie«, sagte Ann Kathrin selbstsicher, »genau das glaube ich nicht.«
Sie zeigte ihren Ausweis vor und schob ihren rechten Fuß so in den Türspalt, dass der Mann ihr die Tür nicht vor der Nase zuknallen konnte.
Er registrierte das, und es gefiel ihm nicht.
»Der Mädelsabend findet nicht hier, sondern bei Meta oder Wolbergs oder in der Schaluppe statt.«
Er wirkte, als hätte er Lust, ihr den Rotwein ins Gesicht zu kippen.
»Bitte machen Sie mir keine Schwierigkeiten. Lassen Sie mich rein. Ich möchte mich nur mal umsehen.«
Er zeigte auf das Touristenpaar. »Gehören die auch zu Ihnen?«
Ann schüttelte den Kopf. »Nein.«
Er rief zu den Ehrlichs rüber: »Was glotzt ihr so? Wir sind hier nicht im Zoo!«
»Lebt die Frau noch?«, fragte Herr Ehrlich besorgt.
Seine Frau wollte Ann Kathrin beistehen: »Brauchen Sie Hilfe?«
Ann Kathrin reagierte nicht darauf, deshalb ergänzte sie triumphierend: »Mein Mann kann Judo!«
»Bitte machen Sie mi