: Claire Berest
: Das Leben ist ein Fest Ein Frida-Kahlo-Roman
: Insel Verlag
: 9783458768739
: 1
: CHF 14.00
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 221
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB

Frida spricht nicht, sie brüllt, sie flucht wie ein Bierkutscher, demonstriert mit den Kommunisten auf den Straßen von Mexiko-Stadt, trinkt literweise Tequila, feiert unzählige Feste - und das alles mit einem von Schmerzen gepeinigten und geschundenen Körper. Und sie malt, revolutioniert mit ihren Selbstporträts die Kunst ihrer Zeit, man sieht ihre Werke in den Galerien von New York und Paris. Frida will kein Leben ohne Sturm. Und sie kann sich kein Leben ohne Diego Rivera vorstellen, den großen mexikanischen Maler, auch wenn die beiden - »der Elefant und die Taube« - ebenso wenig getrennt wie gemeinsam leben können ...

Noch nie war man Frida Kahlo so nah wie in dieser Romanbiografie, die ebenso gut aus der Feder der mexikanischen Künstlerin selbst hätte stammen können.



<p>Claire Berest, geboren 1982 in Paris, veröffentlichte mit 27 Jahren ihren ersten Roman. 2017 schrieb sie zusammen mit ihrer Schwester ein Buch über ihre Großmutter,<em>Gabriële lt;/em>, das in Frankreich rasch zu einem Bestseller wurde. Mit Frida Kahlo beschäftigte sich Berest jahrelang, ehe sie ihren Erfolgsroman schrieb.</p>

Kobaltblau


Sie sieht nur ihn, ohne ihn anschauen zu müssen.

Er vergnügt sich endlos im beinahe toten Winkel, am Rand des Blicks, wo man mehr erahnt als erkennt. Ein spektakuläres Gebilde, halb Dickhäuter, halb Krake mit vereinnahmenden Tentakeln, das den ganzen Raum nassspritzt, in dem sich seine Masse ausbreitet. Eine Zirkustrophäe, die sich jede Frau gern an die Brust heften, der sie sich gern hingeben würde. Dieser zentnerschwere Mann von unnatürlicher Beweglichkeit, dessen Überfülle rosafarbenen Fleisches die Wendigkeit und Schnelligkeit eines Knüppels noch verstärkt, weckt bei einer jeden unmittelbare und unzähmbare Lust auf Verbotenes. Ohne dass sie es sich eingestehen können, verzaubert Diego Rivera das schwache Geschlecht wie ein berauschender Duft, der im Vorüberziehen die Sinne betört, ein Hypnotiseur, durch den alle Scham verschwindet, die Brüste schwellen, und das Urbedürfnis nach Besitz erwacht.

In seinem Beisein steigt die Stimmung eines Festes um eine Oktave, Ungeniertheit breitet sich aus, Schönheitsflecken glänzen, schlummernder Mut kommt in Schwung. Es knistert. Allein seine Gegenwart lässt den Charme der Schönredner und wohlgeformten Körper verfliegen, der eben noch in der Luft lag. Er fesselt, er fasziniert. Während Frida ihn anstarrt, kommen ihr die leuchtenden Punkte in den Sinn, das lästige Blinken, das ständig vor den Augen tanzt, auch bei geschlossenen Lidern, wenn aggressives Licht die Netzhaut so gereizt hat, dass geisterhaftes Blitzen im Innern der Augen andauert. Durch welche Gunst ruft die Aura dieses Monsters ein so aphrodisisches Glitzern hervor? Diego ist nämlich hässlich, wirklich hässlich, was ihn selbst amüsiert. Eine Hässlichkeit, die schmeckt, den Appetit anregt. Man möchte in den dicken Bauch hineinbeißen, sich die Zähne schmutzig machen, seine kräftigen Finger lecken, mit der Zunge über seine zu weit auseinanderstehenden dunklen Glupschaugen fahren.

Sie reißt sich von der Betrachtung des bekanntesten Malers Mexikos los und lässt ihren Blick über die anderen Anwesenden schweifen, eine formlose, berauschende Menge an Möglichkeiten. Eine Feier wie jede andere, oder?, denkt sie. Wie immer lüftet sich ein wenig der Schleier von den Pflichten des Tages, man brüllt lauter, atmet tiefer, trinkt mehr und rascher, das Lachen wird schneller, fällt vom Mund herab, stürzt sich auf den, der gerade vorbeikommt, und küsst ihn. Doch die Feste bei Tina Modotti haben den seltsamen Reiz, einander nie zu gleichen. Sie versprechen solche Entgleisungen, dass Frida gern die stille Beobachterin spielt.

Frida Kahlo geht von einem Raum zum nächsten, um die von leidenschaftstrunkenen Geschöpfen bevölkerte Mondlandschaft aus wechselnden Perspektiven zu betrachten. Sie mustert die Männer, die wie Herren des alten Spanien gekleidet sind, ihre strahlenden Knöpfe, die geraden Nähte, ihr Strähne um Strähne gebändigtes Männerhaar, ihre elegante Haltung, die danach verlangt, außer Fassung gebracht zu werden; und die schönen Dichter mit ihrem gepflegten Äußeren dicht an dicht mit anderenhombres in zerknitterten Hemden, Besitzer einer einzigen Hose, die sie jeden Tag der Woche über ihre grau gewordene Unterhose ziehen, denen wenig gehört, da sie mit den Händen arbeiten, doch sie alle haben für sie den gleichen perfekten Schweißgeruch, sie alle verschmelzen zu einem Bild, denn Frida sieht sie nackt vor sich, mit einem Wimpernschlag wischt sie ihr stolzes Gehabe, ihre Posen und ihre Staffage beiseite. Angespannte Muskeln, Sehnen, schwarz behaarte Oberkörper, zarte und zu große Füße junger Männer nehmen in ihrem Kopf Gestalt an. Hier bei Tina stehen die Frauen ihnen in nichts nach, sie sind ebenso selbstsicher und heißblütig; auch sie sind frei. Die einfachen Näherinnen, die gekommen sind, um zu trinken, reden ebenso laut wie die Frauen, in deren Milieu man taillierte Kleider trägt. Für die Zeit eines Rausches versöhnen sich die einander bekämpfenden Klassen. Tina Modotti ist eine Abenteuerin. Die italienische Fotografin mit zahlreichen Liebesaffären und politische Aktivistin hat das entspannte Gesicht jener Frauen, deren Schönheit neben ihrer Intelligenz und ihrem Können nur ein überraschendes Detail ist. Sie ist eine Lebenskünstlerin. Ihr Freund Germán de Campo hat Frida in das Milieu der Künstler und Kommunisten (ein Pleonasmus) eingeführt, als sie sich endlich von dem medizinischen Korsett befreit hatte, in dem sie monatelang ans Bett gefesselt war, als Frida wieder anfangen konnte zu leben – kein normales Leben, aber immerhin ein Leben. Sie hat Tina Modotti bei derPCM, der kommunistischen Partei Mexikos, kennengelernt, in die Frida eingetreten war. Schon bei der ersten Umarmung fanden sie Gefallen aneinander, seit der zweiten lieben sie sich. Frida mag ihre italienische Nase, ihre vollkommene Brust und ihre Haarknoten, die sie im Rhythmus ihres stakkatohaften Redeflusses auflöst. Frida gefällt es, wie Tina, die Ausländerin, die mexikanischen Frauen von hinten, die Hausfassaden von vorne und die Blumen ohne Stiel fotografiert, Frida mag Tinas Art, Mexiko zu lieben.

Frida hält sich im Hintergrund, ihr Körper hat sich von dem Unfall noch nicht ganz erholt. Er glüht, dieser Körper, wie eine Blechplatte in der prallen Sonne, ihr dürstet nach starkem Alkohol, nachguitarrones und kompromisslosen Trompetenklängen, die sie in Sphären heben, aus denen man nicht unversehrt zurückkehrt, doch ihre Beine können sie kaum tragen. Frida muss sich wieder neu lernen, jede Bewegung kann unerwartete, schreckliche Folgen haben, der Schmerz liegt immer auf der Lauer, jederzeit bereit zuzubeißen. Die Angst lässt sie frösteln, sie, die früher für ihr Leben gern gerannt ist.

Wettrennen durch die Gänge der Schule, im Sprung über die niedrigen Mauern ihres Viertels, in den Klassenzimmern vor ihren strengen Lehrern, Klettern um die Wette auf Gerüste und Bäume, Rennen durch die Straßen von Mexiko, um keine Begegnung zu verpassen, die einem Tag oder dem ganzen Leben eine entscheidende Wendung geben könnte, Rennen, bis sie nicht mehr wusste, wo ihr der Kopf stand, Frida, unersättlicher Feuerkopf, die von klein auf nur die Spiele der Jungen spielte und keine Herausforderung ausließ, bei der man sich die Knie aufschlagen, die Sinne verwirren und das Gesicht zerkratzen konnte.

Fridas Beine haben sich in einer Art Kribbeln die Erinnerung an ihre frühere Unerschrockenheit, ihren unfehlbaren Mut bewahrt, doch heute sind sie abgestorbenes Holz, mit zwanzig Jahren seit dem Unfall verrostet, teuflischer, schizophren gewordener Körper, und so bewundert Frida Germán und Tina, die wild und ausgelassen wie die Teufel tanzen, ihr ist fast so, als tanzte sie mit, als Tina ihren Rock anhebt, Schweiß zwischen Beine und auf Stirnen treibt und ihrem kubanischen Liebhaber Antonio Mella freudig und beschwingt einen Tequila nachschenkt.

Der blendend aussehende Mella mit dem Gesicht einer griechischen Statue, den man gern in zwei Bissen verschlingen möchte, ohne zwischen seinem Kopf, seinem Körper und seinen Reden zu unterscheiden.

Das Grammophon dröhnt immerfort, die Boheme strömt weiter herbei, wie schwarze Ameisen, die über eine Honigquelle herfallen. Alles ist ausgelassen, politisch und tragisch. Schamgefühle und Tabus verschwinden. Nach den langen Monaten, in denen sie liegen musste, sind Tinas Feiern für Frida das beste Mittel, wieder auf die Beine zu kommen. Mit ihren zwanzig Jahren fühlt sie sich alt und möchte wieder ihre Jugend genießen, den goldenen Faden wieder aufnehmen, sich wie früher ins Getümmel stürzen, als sie irrlichternd durch die Gegend streifte, die lauten Diskussionen und all die Scherze machen ihr den Kopf frei, die Musik durchdringt sie, drängt in ihre Adern, sie kann nicht losstürmen, noch nicht, wie sie hofft, aber das kommt wieder, es ist schon fast da, sie singt trotz allem, fasst irgendeinen Genossen an den Nacken, es sind hier jaalle Genossen, sie trinkt und trinkt, stürzt Mezcal die Kehle hinunter, von dem jeder Tropfen die Wirklichkeit umstößt. Frida kann nach wie vor trinken, sie ist trinkfest auf ihren Beinen aus Pappmaschee. Sie...