: Alexis Ragougneau
: Opus 77 Roman
: Unionsverlag
: 9783293311213
: 1
: CHF 8.10
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 224
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Auf der Beerdigung ihres Vaters hält Ariane am Flügel inne, die gefeierte Konzertpianistin, belauert von der Trauergesellschaft. Eine dröhnende Pause, ein langes Atemholen, und Ariane setzt an - zu Schostakowitschs »Opus 77« und zu der Geschichte ihrer Familie. Ihr Vater, der große Dirigent, der Maestro, übermächtig in Orchester und Familie. Ihr Bruder, Geigenvirtuose, das blasse Gesicht verborgen hinter schwarzen Locken. Ihre Mutter, ehemals leuchtend, nur noch ein schwacher Schatten. Und sie selbst, verdeckt von der perfekten Inszenierung der unnahbaren Pianistin. Vom einsamen Gesang steigert sich Arianes Opus zu einem dämonischen Tanz, der die Ruhe zerreißt und die Missklänge der Vergangenheit aufwirbelt.

Alexis Ragougneau (*1973) studierte zunächst Betriebswirtschaftslehre, bevor er sich dem Theater zuwandte und eine Schauspielausbildung absolvierte. Bis 2013 war er als Schauspieler, Regisseur und vor allem als Dramatiker tätig, seine Theaterstücke wurden in Frankreich, Belgien und der Schweiz aufgeführt. 2014 gab er sein Romandebüt. Für seinen Roman Opus 77 wurde er mit dem Prix Libraires en Seine und dem Prix de l'Union Interalliée ausgezeichnet und stand u. a. auf der Shortlist des Prix Femina und des Prix Goncourt.

Ich habe nur an einem einzigen Wettbewerb teilgenommen, fast zwei Jahre nach dem Skandal von Brüssel, nachdem mein Bruder sich in seinem Bunker verschanzt hatte und von meinem Vater auch noch einiges gekommen war. Ich war gerade achtzehn geworden. Meine Karriere hatte noch gar nicht begonnen, aber ich war schon europaweit unbeliebt, teils weil ich so schön, also oberflächlich war, aber noch mehr, weil ich Claessens hieß. Die Tochter des Dirigenten, der … Die Schwester des Geigers, welcher … Jedenfalls wussten alle Bescheid.

Ich flog nach New York, um an dieser unbedeutenden, von einem Klavierverleiher gesponserten Ausscheidung teilzunehmen, die außerhalb des großen internationalen Wettbewerbszirkus stattfand, wo man eine Startnummer zieht, mit der man dann auf die Bühne geschickt wird – wie die Radrennfahrer bei der Tour de France.

In New York spielen die Kandidaten anonym hinter einer Trennwand. Die Jury kennt weder Namen noch Aussehen, sie sieht die dramatischen Gesten ebenso wenig wie das emotional verzerrte Gesicht oder den Schweiß, der unter der Scheinwerferhitze in Strömen rinnt.

In New York winken dem Sieger weder Geld noch Standing Ovations, sondern sein erster Schallplattenvertrag und ein Auftritt in der Carnegie Hall.

In New York habe ich befreit gespielt, ohne auch nur einen Augenblick an den Blick der anderen zu denken; ich konnte sie spüren, meine Richter, auf der anderen Seite des Paravents, aber ich wusste nichts von ihnen, so wie sie nichts von mir wussten, sie kannten nicht einmal mein Geschlecht.

So spielte ich Liszts h-Moll-Sonate dort für einen Wandschirm. Und verlor jedes Gefühl für Raum und Zeit. Irgendwann hatte ich den Eindruck – und das würde ich auf alles schwören, was Sie wollen, außer auf den Kopf meiner Mutter oder meines Vaters –, dass mein Flügel sich von der Erde erhob; eine halbe Tonne Holz und Eisen schwebte über der Bühne, alles erschien mir einfach, leicht, selbstverständlich. Ich war nicht mehr Ariane Claessens, sondern eine glatte, schimmernde Seifenblase, in der tausend Millionen Noten tanzten. Diese Erfahrung, das kann ich Ihnen versichern, ist besser als alle Drogen der Welt. Auch wenn man sie nur ein einziges Mal gemacht hat, kann sie zum Ziel eines ganzen Lebens werden, die Ergriffenheit, die Schlichtheit, die Gnade dieses Konzerts für einen Paravent wiederzufinden, das ich mit knapp achtzehn gab. 

Oft reicht es, am Ende eines Stücks mit beseeltem Gesichtsausdruck sitzen zu bleiben, um Beifallsstürme auszulösen. Alles liegt an diesen paar Sekunden Nachhall –Sie ist so schön und von einer so tiefen Empfindung, noch ganz erfüllt von dieser ungeheuren Musik, eine enorme Künstlerin, lasst sie uns geziemend feiern, ihr einen roten Teppich aus Bravo- und Zugaberufen ausrollen, auf dem sie sanft landen kann; dann wird sie sich uns zuwenden, dem eroberten Publikum, und uns zum Dank eine Verbeugung schenken, vielleicht sogar ein Lächeln, in dem sich Freude, Demut und Erschöpfung mischen.

Die Liszt-Sonate eignet sich aufs Allerbeste für