: Kristin Hannah
: True Colors - Das Geheimnis der Schwestern Roman
: Aufbau Verlag
: 9783841235428
: 1
: CHF 9.80
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 480
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB

Sie dachte, nichts könne sie entzweien. Sie wusste nichts von der Liebe.

Nichts kann die drei Schwestern Grey trennen, selbst der Tod der Mutter schweißt sie noch enger zusammen. Ihr Vater jedoch wird durch den Verlust seiner Frau unerbittlich. Nur Vivi Ann, die ganz in der Arbeit mit den Pferden der Ranch aufgeht, findet seine Anerkennung und Liebe; die Ältere, Winona, ringt vergeblich darum. Trotz allen Zusammenhalts geraten die Schwestern in immer größere Konkurrenz zueinander - mit verheerenden Konsequenzen. Dann wendet sich Vivi Ann gegen die väterliche Ordnung, und die Familie droht zu zerbrechen ...

Ein großer Roman über drei Schwestern, die gegen die Grenzen ihrer Welt aufbegehren - von der Autorin des Weltbestsellers »Die Nachtigall«.

»Krist n Hannah ist eine meisterhafte Erzählerin.« Delia Owens.

»Das Geheimnis der Schwestern«: Diese Ausgabe des Romans wurde neu übersetzt und erscheint in neuer Ausstattung.



Kristin Hannah, geboren 1960 in Südkalifornien, arbeitete als Anwältin, bevor sie zu schreiben begann. Heute ist sie eine der erfolgreichsten Autorinnen der USA und lebt mit ihrem Mann im Pazifischen Nordwesten der USA. Nach zahlreichen Bestsellern waren es ihre Romane »Die Nachtigall« und »Die vier Winde«, die Millionen von Leser:innen in über vierzig Ländern begeisterten und Welterfolge wurden. Im Aufbau Taschenbuch liegen ebenfalls ihre Romane »Die Nachtigall«, »Die andere Schwester«, »Das Mädchen mit dem Schmetterling«, »Die Dinge, die wir aus Liebe tun«, »Die Mädchen aus der Firefly Lane«, »Liebe und Verderben«, »Winterschwestern«, »Der Junge von Angel Falls« und »Die vier Winde« vor. Gabriele Weber-Jari? lebt als Autorin und Übersetzerin in Berlin. Sie übertrug u. a. Mary Morris, Mary Basson und Allison Pataki ins Deutsche.

Kapitel 1


1992

Auf diesen Tag im Januar hatte Vivi Ann seit Langem gewartet. Noch bevor die ersten Sonnenstrahlen den Morgenhimmel erhellten, warf sie die Bettdecke zurück und stand auf. In der kalten Dunkelheit ihres Zimmers zog sie ihren dicken Overall an und setzte eine Wollmütze auf. Sie griff nach ihren abgewetzten, ledernen Arbeitshandschuhen, schlüpfte in die Gummistiefel und verließ das Haus in Richtung Stall.

Sie musste die Pferde nicht füttern, das gehörte zu den Aufgaben des neuen Rancharbeiters. Aber zum Schlafen war sie zu aufgeregt, warum also sollte sie sich nicht nützlich machen?

Der Mond wurde von Wolken verdeckt, und außer ihrem gespenstisch weißen Atem war nicht viel zu sehen. Doch wenn Vivi Ann eines kannte, dann war es das Land ihres Vaters.

Water’s Edge.

Vor über hundert Jahren hatte ihr Urgroßvater sich hier niedergelassen und den nahe gelegenen Ort Oyster Shores gegründet. Andere Männer hatten sich für dichter bevölkerte und zugänglichere Landstriche entschieden, Abelard Grey nicht. Er hatte weite Ebenen durchquert, einen Sohn bei einem Überfall verloren, ein anderer war an der Grippe gestorben. Grey war weiter nach Westen gezogen, hatte von einer wilden, abgeschiedenen Gegend im Evergreen State, dem immergrünen Bundesstaat Washington, geträumt. Als er sie zwischen dem klaren Wasser des Hood Canal und einem bewaldeten Hügel fand, steckte er fünfzig Hektar ab. Es war ein ausnehmend schönes Stück Land.

Vivi Ann stieg die kleine Anhöhe zur Reithalle hinauf, die sie vor zehn Jahren errichtet hatten. Unter dem hohen Holzdach befanden sich eine Reitbahn und der Stall mit je sechs Pferdeboxen auf beiden Seiten. Als sie die große Schiebetür öffnete, schalteten sich die Deckenleuchten ein, mit einem Geräusch, das wie ein Fingerschnipsen klang. Sofort wurden die Pferde unruhig und wieherten; sie hatten Hunger. Eine Stunde lang gabelte Vivi Ann Heu aus den Ballen, die sich im Schuppen stapelten und fuhr die Ladungen mit der rostigen Schubkarre über den unebenen Betonboden der Boxengänge. An der letzten Box hing ein handgefertigtes Holzschild, auf dem der selten benutzte, offizielle Name ihrer Stute stand: Clementine’s Blue Ribbon.

»Hey, mein Mädchen.« Vivi Ann entriegelte die Boxentür und schob sie zur Seite auf.

Mit einem leisen Schnauben kam das Pferd auf sie zu und schnappte sich etwas Heu aus der Schubkarre.

Vivi Ann füllte die Futterraufe und schloss die Tür hinter sich. Während Clem fraß, strich sie ihr über das seidenweiche Nackenfell.

»Bist du bereit fürs Rodeo?«

Als Antwort drückte die Stute sich so fest an Vivi Ann, dass sie Mühe hatte, ihr Gleichgewicht zu halten.

In den Jahren nach Moms Tod waren Vivi Ann und Clem unzertrennlich geworden. Dad hatte damals kaum noch mit seinen Töchtern gesprochen, dafür jedoch zu trinken begonnen, und ihre Schwestern hatten sich in erster Linie für die Highschool interessiert. Weshalb Vivi Ann einen Großteil ihrer Zeit mit diesem Pferd verbracht hatte. Manchmal, wenn Kummer und Einsamkeit nachts übermächtig wurden, schlüpfte sie aus ihrem Zimmer, lief zum Pferdestall und schlief zu Clems Hufen auf dem mit Sägespänen bedeckten Boden.

Auch in späteren Jahren, als Vivi Ann selbst auf der Highschool war und einen großen Freundeskreis besaß, blieb Clem ihre beste Freundin. Nur hier, in der süß duftenden Enge der Box gab Vivi Ann ihre tiefsten Geheimnisse preis.

Noch einmal tätschelte sie Clems Nacken, dann verließ sie den Stall. Als sie das Haus erreichte, war die Sonne bereits ein karamellfarbener Klecks am trüben Winterhimmel. Vivi Anns Blick wanderte über das stahlgraue Wasser des Fjords und die gezackten, schneebedeckten Gipfel der fernen Berge.

Sie betrat das dämmrige Wohnhaus. Über ihr knarrten die Holzdielen verräterisch – ihr Vater war aufgestanden. Sie ging ins Esszimmer, deckte den Tisch für drei Personen und bereitete in der Küche das Frühstück. Gerade, als sie einen Teller Pancakes zum Warmhalten in den Ofen stellte, hörte sie ihren Vater im Esszimmer. Sie schenkte eine Tasse Kaffee ein, gab Zucker hinzu und brachte sie ihm.

Ihr Vater nahm den Kaffee entgegen, ohne von seiner Zeitschrift, demWestern Horseman, aufzublicken.

Für einen Moment stand Vivi Ann da, überlegte, was sie sagen konnte, um ein Gespräch zu beginnen.

Dad trug seine Arbeitskluft – kariertes Flanellhemd, abgetragene Jeans mit großer, silberner Gürtelschnalle, die ledernen Arbeitshandschuhe steckten im Hosenbund. Er sah aus wie jeden Morgen, und doch war etwas anders. Vivi Ann entdeckte eine Reihe feiner Fältchen in seinem Gesicht, die ihr neu waren und ihn älter wirken ließen.

Die Jahre seit Moms Tod hatten ihn gezeichnet. Seine Gesichtszüge waren schärfer geworden, und es lagen Schatten, wo keine sein sollten – auf den schweren Tränensäcken unter seinen Augen und in seinem Blick. Sein Rücken war krumm geworden. Das gehöre zu einem Hufschmied, behauptete er, es zeuge von den vielen Jahren, in denen er gebückt Nägel in Pferdehufe geschlagen habe. Aber Vivi Ann war sich sicher, Moms Tod und das Gewicht der Einsamkeit hatten dazu beigetragen. Nur in der Öffentlichkeit stand ihr Vater gerade, zeigte sich vom Leben ungebeugt, auch wenn es ihn noch so sehr anstrengen mochte.

Während Vivi Ann das Frühstück auftrug, las ihr Vater weiter seine Zeitschrift.

»In den letzten Wochen war Clem noch schneller als sonst«, sagte Vivi Ann und ließ sich ihm gegenüber nieder. »Ich denke, wir können das Rodeo in Oregon gewinnen.«

»Wo ist der Toast?«

»Ich habe Pancakes gemacht.«

»Zu Spiegeleiern gehört Toast. Das weißt du.«

»Wir haben kein Brot mehr, nimm dir Hash Browns.«

Dad seufzte schwer und blickte auf den leeren Platz am Tisch. »Hast du Travis heute schon gesehen?«

Vivi Ann sah aus dem Fenster zur Reithalle hinüber. Der Rancharbeiter war nirgends zu entdecken. Keine Schubkarre vor dem Stall, kein Traktor mit laufendem Motor. »Ich habe die Pferde gefüttert. Wahrscheinlich repariert Travis den Zaun.«

»Mit dem hast du mal wieder das große Los gezogen«, sagte Dad. »Wenn du nicht jedes kranke Pferd im Umkreis retten würdest, kämen wir ohne Hilfe aus. Die wir uns ohnehin nicht leisten können.«

»Apropos Geld. Fürs Rodeo brauche ich dreihundert Dollar, und die Kaffeedose ist leer.«

Keine Antwort.

»Dad?«

»Das Geld ist für die Heurechnung draufgegangen.«

»Alles?«

»Die Steuern waren ebenfalls fällig.«

Vivi Ann runzelte die Stirn. »Dann stecken wir in Schwierigkeiten.« Knapp bei Kasse zu sein, war nichts Neues, doch diesmal traf es sie. Plötzlich verstand sie, warum Winona ihr ständig damit in den Ohren gelegen hatte, Geld für die Steuern zurückzulegen. Vivi Ann schaute zu ihrem Vater, der gekrümmt dasaß, die Ellbogen auf den Tisch gestützt. Für ihre Schwestern wäre diese Haltung ein Zeichen schlechter Manieren gewesen, Vivi Ann wusste es besser. »Hast du Rückenschmerzen?«

Ihr Vater tat, als habe er sie nicht gehört.

Vivi Ann holte die Packung Schmerztabletten aus der Küche und legte sie vor ihn.

Seine schwielige Hand schloss sich darum.

»Mach dir keine Sorgen«, sagte Vivi Ann. »Ich finde einen Weg, um an das Geld zu kommen. Und dieses Mal gewinne ich. Vielleicht sogar die zweitausend Dollar.«

Danach schwiegen sie wieder. Dad las seine Zeitschrift. Als er fertig gefrühstückt hatte, schob er den Stuhl zurück und stand auf. An der Tür nahm er seinen Cowboyhut vom Haken, wandte sich noch einmal um und sagte: »Mach mich stolz.«

»Ja, Dad. Bis später.«

Dann war er fort, und Vivi Ann saß unschlüssig da.

Sie war vierundzwanzig Jahre alt, und sie hatte sich stets treiben lassen. Wie ein Blatt im Wind war sie gewesen, wurde mal...