: Ken Follett
: Die Spur der Füchse Roman
: Verlagsgruppe Lübbe GmbH& Co. KG
: 9783838722535
: 1
: CHF 8.10
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: Krimis, Thriller, Spionage
: German
: 285
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB

Binnen weniger Stunden in London: Ein tolldreister Millionenraub wird verübt, ein hoher Politiker begeht einen rätselhaften Selbstmordversuch, ein Großkonzern wird in letzter Minute vor dem Konkurs gerettet und ein Unterweltboß erlebt ein blutiges Fiasko. Als ein junger Reporter dieses Netzwerk aus Korruption und Gewalt entwirrt, wird er zum Schweigen gebracht. Denn selbst die Presse ist nur eine Figur im teuflisch-genialen Plan eines Finanzhais - der Operation Obadja...

06.00 UHR

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Es war die glücklichste Nacht in Tim Fitzpetersons Leben.

Dies war auch sein erster Gedanke, als er die Augen aufschlug und das Mädchen sah, das neben ihm im Bett lag und schlief. Aus Angst, sie zu wecken, bewegte Tim sich nicht, schaute sie aber im kalten, klaren Licht der Morgendämmerungüber London beinahe verstohlen an. Sie lag auf dem Rücken, so vollkommen entspannt wie ein kleines Kind. Tim wurde an seine Tochter Adrienne erinnert, als sie noch ein Baby gewesen war, und rasch verdrängte er diesen unwillkommenen Gedanken.

Das Mädchen neben ihm hatte kurzes rotes Haar, das wie eine Mütze auf ihrem kleinen Kopf saß und ihre winzigen Ohren frei ließ. Alles in ihrem Gesicht war klein: Nase, Kinn Wangenknochen, die ebenmäßigen Zähne. Einmal, in der Nacht, hatte Tim mit seinen breiten, plumpen Händen ihr Gesicht betastet und seine Finger behutsam auf ihre Wangen gedrückt, hatte ihrübers Haar gestreichelt und ihre Lippen sanft mit den Daumen geöffnet, als könnte seine Haut ihre Schönheit spüren wie die Hitze eines Feuers.

Tims linker Arm ragte schlaff unter der Bettdecke hervor die so weit heruntergezogen war, dass die schmalen Schultern und eine Brust des Mädchens zu sehen waren; jetzt, im Schlaf war die Brustwarze weich und flach.

Tim und das Mädchen lagen dicht nebeneinander, ohne sich zu berühren, doch er konnte die Hitze ihres Oberschenkels an dem seinen spüren. Er nahm den Blick von ihr und starrte an die Decke, und für einen Augenblick genoss er den wohligen Schauder verbotener Lüste, als er an den ehebrecherischen Beischlaf letzte Nacht dachte.

Dann stand er auf.

Er verharrte neben dem Bett und schaute auf das Mädchen. Sie schlief noch immer friedlich. Selbst im klaren Licht des frühen Morgens sah sie hübsch aus, trotz ihres zerwühlten Haares und der verwischtenÜberbleibsel eines einstmals kunstvollen Make-ups im niedlichen Gesicht.

Tim wusste, dass das Morgenlicht mit ihm selbst nicht so rücksichtsvoll umging. Deshalb hatte er versucht, das Mädchen nicht zu wecken: Er wollte erst einen Blick in den Spiegel werfen, bevor sie ihn zu Gesicht bekam.

Nackt schlurfte Timüber den stumpfgrünen Wohnzimmerteppich ins Bad. Für einen flüchtigen Moment sah er die Wohnung mit den Augen eines Fremden, der sie zum ersten Mal betritt, und er fand sie hoffnungslos trist: Da waren das Sofa– von einem noch stumpferen Grün als der Teppich–, auf dem verblassende, geblümte Kissen lagen; der schmucklose Schreibtisch aus Holz, wie man ihn in Millionen Büros zu sehen bekam; der Schwarz-Weiß-Fernseherälteren Modells; der Aktenschrank und das Bücherregal, auf dem juristische und wirtschaftswissenschaftliche Lehrbücher sowie mehrere Bände der amtlichen britischen Parlamentsprotokolle standen. Tim hatte sich diese kleine Zweitwohnung in London vor längerer Zeit zugelegt, doch erst letzte Nacht hatte sie sich endlich bezahlt gemacht.

Das Badezimmer besaß einen mannshohen Spiegel. Nicht Tim hatte ihn gekauft, sondern seine Frau Julia– damals, in den alten Zeiten, bevor Julia sich völlig aus dem Großstadtleben zurückgezogen hatte. Tim drehte den Warmwasserhahn auf und blickte in den Spiegel, während er darauf wartete, dass die Wanne volllief. Er fragte sich, was an dem Körper mittleren Alters dran sein mochte, den er nun im Spiegel sah. Wie konnte einsolcher Körper ein bildschönes Mädchen von– hm, fünfundzwanzig Jahren?– in eine so rauschhafte Lust versetzen? Tim war gesund, aber nicht fit– jedenfalls nicht in dem Sinne, wie dieser Begriff zumeist benutzt wird: um einen schlanken, durchtrainierten Mann zu bezeichnen, der Sport trieb und Fitnessstudios besucht. Tim war klein, und sein von Natur aus untersetzter Körper wirkte derüberflüssigen Fettpolster wegen– besonders an Brust, Hüften und Gesäß– noch gedrungener. Für einen Mann von einundvierzig Jahren war seine Konstitution zwar in Ordnung, doch was den Sex betraf, war er, wie er wusste, weiß Gott keine Offenbarung.

Der Spiegel beschlug vom Wasserdampf, und Tim stieg in die Wanne. Er aalte sich im heißen Wasser, bettete den Kopf an die Wandung und schloss die Augen. Erst jetzt wurde ihm klar, dass er weniger als zwei Stunden geschlafen hatte; dennoch fühlte er sich einigermaßen ausgeruht. In seinem konservativen Elternhaus hatte man ihn gelehrt, dass Schmerz und Unbehagen, wenn nicht sogar Krankheiten,