Kapitel 1
2. Juli 1622 – Mariä Heimsuchung
»Wonach hältst duAusschau?« Neugierig musterte Philipp seine Schwester, als er in ihr Zimmer trat.
Anneke, die am Fenster saß, wandte sich zu ihm um. Sie lächelte schuldbewusst.
»Nach nichts Bestimmtem«, erwiderte sie. »Ich verstecke mich nur vor Mutter und Gertrude, um mich ein wenig ausruhen zu können. Es gibt für das große Fest morgen noch so viel zu tun.«
Philipp lachte und trat neben sie.
»Meine brave Schwester drückt sich vor der Arbeit? Wer hätte das gedacht.«
»Du hast es grad not, dich lustig zu machen«, wehrte Anneke ab. Sie war es gewohnt, sich gegen ihre großen Brüder zur Wehr zu setzen, und von Philipp, der dem lieben Gott ohnehin die Zeit stahl und von der Arbeit weniger hielt als ein Klumpen Blei, musste sie sich gewiss keine Vorhaltungen machen lassen.
Philipp reagierte nicht, sondern schaute interessiert aus dem Fenster.
»Sieh nur, das alte Weib. Wie eine neugierige Katze streicht sie durch das Viertel und kommt schon zum dritten Mal die Straße entlang. Kennst du sie?«
Anneke schüttelte den Kopf, blickte nun aber auch neugierig hinab.
Philipp öffnete das Fenster, um besser sehen zu können. Schwer auf ihren Stock gestützt, humpelte die Alte am Haus der Claens vorbei und murmelte leise vor sich hin.
»Richtig unheimlich ist sie«, fand Anneke schaudernd.
In diesem Augenblick blickte das Weib zu ihnen herauf, bemerkte sie und hob ihren Stock.
»Will sie uns etwa drohen?«, wunderte sich Philipp belustigt.
»Gewiss nicht«, widersprach Anneke. »Wahrscheinlich ist sie nicht ganz helle im Kopf.«
»Nein«, stellte Philipp erstaunt fest. »Sieh nur, sie gibt uns Zeichen, herunterzukommen. Ich möchte wirklich wissen, was sie von uns will.«
Ohne auf seine Schwester zu warten, verließ Philipp das Zimmer und lief die breite reich geschnitzte Treppe hinunter, die in die große Halle des weitläufigen Hauses führte.
Anneke zögerte kurz, entschied sich dann aber doch, ihm nachzueilen.
Gemeinsam traten sie aus der Haustür, direkt auf die Alte zu.
»Meine Reverenz, hübsche Jungfer und gnädiger Herr«, sagte sie. »Wie gefällig von Euch, mich alte Frau zu begrüßen. Mein Name ist Azadeh, und ich stamme nicht von hier. Meine Heimat liegt weit entfernt. Habt Ihr schon einmal von einer Stadt namens Algier gehört?«
Philipp antwortete nicht. Als Sohn eines Kaufmanns wusste er, dass Alg