: Hannelore Schlaffer
: Anne Hamilton
: Zeit meines Lebens Was war und noch ist
: zu Klampen Verlag
: 9783866749702
: zu Klampen Essays
: 1
: CHF 12.50
:
: Biographien, Autobiographien
: German
: 184
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Die Verteilung des Geistes auf die Geschlechter war nach dem Zweiten Weltkrieg in Westdeutschland klar geregelt. Männer sprachen und schrieben mit Aplomb über Literatur und Kunst, Philosophie und Politik, Frauen durften ihnen zuhören und sie bewundern. Wie konnte eine junge Frau, in eine Familie von Sportlern geboren, unter diesen Bedingungen zu einer prägenden Intellektuellen der Bundesrepublik werden? Hannelore Schlaffer hat keine Autobiographie geschrieben, sondern Miniaturen, in denen die Wandlung der geistigen Physiognomie der Bundesrepublik exemplarisch aufscheint. Weshalb löste Tee den Kaffee als Modegetränk für Geistesarbeiter ab, nur um wieder vom Kaffee verdrängt zu werden? Wie ändert sich das Verhältnis zum Geld in einem intellektuellen »Dinks«-Haushalt? Was sagt die Architektur von Bibliotheken über die gesellschaftliche und eigene Wahrnehmung ihrer Nutzer aus? Eine alltagshistorische Bestandsaufnahme, die von der frühen Bundesrepublik bis in die Jetztzeit führt.

Hannelore Schlaffer lebt als freie Schriftstellerin und Publizistin in Stuttgart. In den Jahren 1982 bis 2006 hatte sie außerplanmäßige Professuren für Neuere deutsche Literatur an den Universitäten Freiburg und München inne. Seit 1980 schreibt sie regelmäßig für Tageszeitungen und Rundfunkanstalten. Sie hat Bücher und Aufsätze veröffentlicht. Ihr 2013 bei zu Klampen erschienener Essayband »Die City« wurde 2014 von der Friedrich-Ebert-Stiftung als »Das politische Buch des Jahres« ausgezeichnet.

Lesen


Esmuss etwas passieren! EtwasUnglaubliches! Jeden Tag – dies wusste auch die »Frankfurter Allgemeine Zeitung« in den achtziger Jahren, da sie täglich am Ende des politischen Teils ihren Lesern eine »kleine Geschichte« anbot, nur ein paar Zeilen lang: Ereignisse, die so unglaublich waren, dass man sie nicht mehr für Nachrichten halten konnte. Die Unglaublichkeit überbot den berichteten Schrecken der Nachricht und machte sie zum Lesespaß. Übertreibung bis zur Unwahrscheinlichkeit ist ein erprobtes Mittel, das Furchtbare zu bannen, damit es das Schöne werde. Denn das Schöne ist nicht, wie Rilke dichtete, des Schrecklichen Anfang, sondern umgekehrt: das Schreckliche ist des Schönen Anfang. Und eines der probaten Mittel, den Schrecken zum Anfang des Schönen zu machen, ist es, dass man, wie eben damals in den Zeitungsgeschichtchen, nichts glauben muss von dem, was erzählt wird: Zum Beispiel glaubt keiner, dass eine Maus ein brennendes Haus retten kann. Und dennoch wusste man, dass eine Zeitung Geschehen nicht erfindet, sondern Fakten berichtet und dass sie auch diesmal wieder dem Leser eine Realität erschlossen hat.

Die geistreichste Art, das Schreckliche in Schönheit zu verwandeln, ist es, das Unglaubliche zu steigern bis zu dem Grad, da es in Fantasie oder Witz übergeht. Die Geschichten, die man am liebsten liest, sind Schauerlichkeiten, die ein Ende nehmen, bei dem der Leser nur noch den Kopf schüttelt. Nichts aber wird ihm, so weiß er, beim Unglück, von dem er gerade liest, geschehen, und doch meint er, er sei mittendrin. Das Schreckliche ins Schöne hinüberzuführen – dazu reicht, bei viel und auch bei wenig Geist, schon ein bequemer Sessel. In seine Polster versunken, von seiner Gemütlichkeit verwöhnt, wird alles Ungeheuerliche, von dem der Leser erfährt, harmlos und zur angenehmen Unterhaltung. Die wilden Schauerlichkeiten, wie man sie in Büchern oft genug findet, zu genießen, genügt aber, falls kein Sessel da und falls man ein Kind noch ist, allein schon die Hand des Vaters.

So war denn auch das erste Buch, das mir vorgelesen wurde und dessen ich mich erinnere – viele andere mögen vorausgegangen sein –, ein ganz, ganz schönes! Und doch erschien es mir, als ich es vierzig Jahre später aus kritischer Distanz noch einmal selbst las, als das erdenklich Bösartigste, was man einem Kind vorsetzen kann: der »Struwwelpeter«. Sadismus sondergleichen in jedem Wort und jedem Bild – doch die Hand des Vaters auf der Schulter war warm, und die spöttische Stimme, mit der er las, verkehrte die Unholde und Bösewichter der Geschichtchen in drollige Figuren, ihre Taten in Wunder, Zauber, Fantasie. All das, was Erziehungswut sich an Grausamkeiten ausgedacht hatte, war ein Spaß: So ließ sich lachen, schadenfroh, über die brennenden Katzen wie über schöne Fackeln, über den bösen Friederich, diesen Narren, über den fliegenden Robert auch, der hieß wie mein Bruder, dem das Bilderbuch eine wunderbare Himmelfahrt vorauszusagen schien.

Die ästhetische Erziehung ist keine moralische Erziehung, wie Schiller mich später lehrte. Sie beginnt beim Kind, beim Kleinkind sogar, und von da an ist und bleibt die Bedingung allen ästhetischen Genusses Körperwärme. Der Körper, der liest, muss sich seiner sicher sein. Er weiß, dass er, sobald er sich aufs Lesen eingelassen hat, das Auge nicht mehr braucht, um wachsam die Umwelt zu kontrollieren. Nun richtet es sich nur noch auf Buchstaben, sperrt es sozusagen hinter dieses Gitter, das die Buchstaben eben sind. Die Augen sind die einzig Gequälten beim Lesen. Je monotoner die Welt ist, die vor ihnen liegt – und was ist s