: Benjamin von Stuckrad-Barre
: Noch wach? Roman
: Verlag Kiepenheuer& Witsch GmbH
: 9783462311457
: 1
: CHF 19.00
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 384
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Berlin: Eine junge Frau erzählt von ihrem neuen Job bei einem großen Fernsehsender, von ihrem neuen Chef, ihrem neuen Leben. Sie wirkt glücklich, beseelt, hoffnungsfroh, es klingt gut. Zu gut? In Los Angeles geht derweil eine Welt unter. Ein Mann, der damit prahlt, als Berühmtheit könne man sich gegenüber Frauen alles herausnehmen, wird Präsident der Vereinigten Staaten. Im Garten des legendären 'Chateau Marmont', diesem Nachtspielplatz verwöhnter Hollywood Kids jeden Alters, vertreibt sich eine illustre Bande auf der Flucht vor der Realität die Zeit. Auch der Erzähler ist hier - und Rose McGowan, die Schauspielerin, der man nachsagt, neuerdings irgendwie anstrengend geworden zu sein.  Kurz darauf erschüttert der Weinstein-Skandal Hollywood, und Rose McGowan ist eine der ersten Frauen, die sexuelle Belästigung durch den bis dahin von ganz Hollywood hofierten Filmproduzenten öffentlich gemacht hat. Rose verschwindet, aber sie hinterlässt dem Erzähler eine kryptische Nachricht - oder ist es vielmehr ein Auftrag? Wieso wendet sie sich ausgerechnet an ihn?  Von Hollywood aus verbreitet sich die #MeToo-Bewegung um die ganze Welt. Doch die alten Machtstrukturen sind widerständiger, als man in der ersten Euphorie vielleicht denken mochte. Zurück in Berlin findet sich der Erzähler nicht mehr nur als Liegestuhlbeobachter, sondern nun als Akteur mitten in einem unübersichtlichen Geschehen wieder, das ihn in einen tiefen persönlichen Konflikt stürzt. 'Noch wach?' ist ein Sittengemälde unserer Zeit, ein typischer Stuckrad-Barre. Literarisch brillant, humorvoll und kompromisslos erzählt dieser Roman von Machtstrukturen und Machtmissbrauch, Mut und menschlichen Abgründen.

Benjamin von Stuckrad-Barre, 1975 in Bremen geboren, ist Autor von »Soloalbum«, 1998, »Livealbum«, 1999, »Remix«, 1999, »Blackbox«, 2000, »Transkript«, 2001, »Deutsches Theater«, 2001, »Festwertspeicher der Kontrollgesellschaft - Remix 2«, 2004, »Was.Wir.Wissen«, 2005, »Auch Deutsche unter den Opfern«, 2010, »Panikherz«, 2016, »Nüchtern am Weltnichtrauchertag«, 2016, »Udo Fröhliche«, 2016, »Ich glaub, mir geht's nicht so gut, ich muss mich mal hinlegen - Remix 3«, 2018 und »Alle sind so ernst geworden« (mit Martin Suter), 2020.
Inhaltsverzeichnis

City of Stars


Fast alle waren jetzt nackt. Und es war ja eh schon dunkel. Der ovale Pool leuchtete absinthfarben, ließ den Zitronenbaum schimmern, der sich über das Wasser beugte wie jemand, der nach einem schlafenden Kind sieht. Dampf stieg aus dem Pool auf, jemand drehte die Musik lauter, klirrende Gläser, Lachen – das Kind konnte oder wollte offenkundig nicht schlafen: Arschbombe, untertauchen und alles vergessen. Es waren die letzten Tage der Menschheit, wieder mal. Trump, Weinstein, der komplette Untergang zumindest dieser Welt hier stand zwar kurz bevor, aber wir wussten von all dem jetzt noch nichts, wobei, ein bisschen was wusste jeder, man hatte so dies und das mitbekommen,ZUMAL HIER IN LOS ANGELES, sehr viel mehr allerdings gehört als selbst bezeugen können, und ob man das jetzt gleichWISSEN nennen sollte – wir waren ja hier am Pool und nicht auf Twitter, hier verschwamm ja sowieso alles, deshalb genau war man ja hier; das Konzept war, unausgesprochen: Realität? Total überschätzt.

Wir ahnten vielleicht was, aber das lässt sich im Nachhinein immer sagen, einfach damit man dann nicht so dumm dasteht. Allerdings standen und liefen, lagen und laberten wir hier sehr gern offensiv dumm herum, solang man uns ließ, irgendwann würde das eh enden, bei mir zum Beispiel durch die unangenehme Realitätswindböe »Geld weg« – bald würde es so weit sein; bei anderen hier würde es bis zu dieser Klippe noch länger dauern, aber die lästige Gegenwart, sie würde sich schon auf die eine oder andere Art melden:ARBEIT!,VISUM!,LEBEN!,FAMILIE! Also im Grunde genommen: Mama kommt rein und macht das Licht an. Na ja. Das Einzige, das wir sicher wussten, war: dass es bald kühler werden würde. Und früher dunkel. Was aber ja gut war – ging die Nacht eher los, fing der Tag später an, wir freuten uns ein bisschen darauf, denn wir liebten die Nacht.

Ich kann nicht so gut rückenschwimmen, aber eine Weile lang klappt es immer. Ich sah zum Mond, der aufgestiegen war hinterm Chateau Marmont, Pool und Mond, dachte ich, bedeuten einander: I’m watching you. Aber da war ja auch noch die im Gebüsch unterm Zitronenbaum versteckte Überwachungskamera, die das alles aufzeichnete. Man konnte trotzdem immerzu machen, was man wollte. Jedenfalls taten wir das, und Ärger gab es fast nie, allenfalls wenn uns jemandIN ACTU erwischte, wie wir auf dem Ziegeldachfirst entlangbalancierten, auf den man aus meinem oberen Bungalowfenster steigen konnte, was immer so viel Spaß machte, weil dabei unter einem die Dachziegel so angenehm sanft knackend zerbrachen. Oder hin und wieder, wenn wir zum Sonnenaufgang den kleinen Holzsteg unterm Gucci-Billboard genau dann erklommen, wenn gerade Schichtwechsel war: von der vornehm großzügigen Nachtwache (mit einem von denen, Angelo hieß er, hatte ich mich angefreundet, und er sagte immer, er liebe es, unsere Poolnächte auf dem Überwachungskameramonitor zu verfolgen, für ihn sei das die beste Serie überhaupt) zum Tagessicherheitsdienst, der strenger war und sein musste, denn dann war ja alles hell, so wahnsinnig hell, als wohnten wir auf der Sonne.

Jetzt aber war das hier eben der Vorgarten des Mondes, und so bewegte ich langsam die Beine und ungelenk auch ein bisschen die Arme, damit ich nicht absoff, winkte vage Richtung Angelo – und schaute in den Nachthimmel.

City of stars

Are you shining just for me?

City of stars

There’s so much that I can’t see

Ist Rose schon weg?, fragte jemand. Sie habe ihr Buch am Pool liegen lassen. Ein dickes, fordernd aussehendes Buch. Ach, Rose, sagte ein Mädchen und machte so ein Hä?-Comicgesicht, als habe ein Außerirdischer sie gerade um Feuer gebeten. Rose ist doch immer nur tagsüber da, sagte ich, lass es einfach da liegen, die ist bestimmt morgen wieder hier.

Ich paddelte zum Poolrand und schaute, was Rose eigentlich gerade so las. Judith Butler, na, gute Nacht auch. Im Sommer war es wenigstens noch Joan Didion gewesen. Es schien zu stimmen, was die anderen immer sagten: Rose ist irgendwie