: Stephen King
: Raststätte Mile 81
: Heyne
: 9783641079048
: 1
: CHF 1.60
:
: Spannung
: German
: 86
: DRM
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
An der Wegmarkierung Mile 81 des Maine-Turnpike steht eine mit Brettern vernagelte Raststätte. Hier treffen sich sonst die älteren Schüler, um zu trinken und Dinge zu tun, die ältere Schüler gern in Schwierigkeiten bringen. Der 11-jährige Pete Simmons ist heute aber allein hier, weil er weiß, dass die Großen woanders sind. Er findet eine halbvolle Wodkaflasche und trinkt davon so viel, dass er benebelt einschläft. Kurz darauf rollte ein schlammverdreckter Kombi (komischerweise hat es in Maine seit Wochen nicht geregnet) auf den von Unkraut überwachsenen Parkplatz, obwohl auch der Tankstellenbetrieb vor Längerem eingestellt wurde. Die Fahrertür öffnet sich, aber niemand steigt aus. Doug Clayton, Versicherungsvertreter aus Bangor, ist ein gottesfürchtiger Mensch. Der verlassen dastehende Kombi weckt den Samariter in ihm. Er biegt von der Schnellstraße ab und hält mit seinem Prius hinter dem schlammigen, kennzeichenlosen Kombi. Etwas später hält auch Julianne Vernon, die gerade mit ihrem Pferdeanhänger unterwegs ist. Die beiden leeren Autos haben sie neugierig gemacht. Sie findet Claytons zerbrochenes Handy neben der offenen Kombitür - und kommt dieser dabei selbst zu nahe. Als Pete Simmons aus seinem Dämmerschlummer erwacht, steht ein halbes Dutzend Autos an der Raststätte Mile 81. Zwei Kinder - Rachel und Blake Lussier und ein Pferd namens Deedee sind die einzigen Lebewesen, die er sieht. Es sei denn, man zählt den Kombi dazu.

Stephen King, 1947 in Portland, Maine, geboren, ist einer der erfolgreichsten amerikanischen Schriftsteller. Bislang haben sich seine Bücher weltweit über 400 Millionen Mal in mehr als 50 Sprachen verkauft. Für sein Werk bekam er zahlreiche Preise, darunter 2003 den Sonderpreis der National Book Foundation für sein Lebenswerk und 2015 mit dem Edgar Allan Poe Award den bedeutendsten kriminalliterarischen Preis für Mr. Mercedes. 2015 ehrte Präsident Barack Obama ihn zudem mit der National Medal of Arts. 2018 erhielt er den PEN America Literary Service Award für sein Wirken, gegen jedwede Art von Unterdrückung aufzubegehren und die hohen Werte der Humanität zu verteidigen. Seine Werke erscheinen im Heyne-Verlag, zuletzt der Spiegel-BestsellerDer Outsider.
6. DIE KINDER(Richforth, Bj. 2011)(S. 54-55)

Von seinem Standort aus, sechzig Meter entfernt, bekam Pete Simmons alles mit. Er sah, wie der State Trooper die Hand mit der Pistole ausstreckte, um damit die Tür des Kombis ganz zuöffnen; er sah, wie der Pistolenlauf in der Autotür verschwand, als wäre der ganze Wagen nichts als eine optische Täuschung; er sah, wie der Trooper nach vorn gerissen wurde, wobei ihm sein großer, grauer Hut vom Kopf fiel. Dann wurde er ruckartig durch die Tür gezerrt, sodass nur noch sein Hut zurückblieb, der neben irgendjemands Handy auf dem Asphalt lag. Danach folgte eine Pause, und der Wagen zog sich zusammen, als bildeten Finger eine Faust. Als Nächstes kam das Geräusch, als würde ein Tennisball mit Schwung von einem Schläger getroffen– Tock!–, und aus der schlammigen geballten Faust wurde wieder ein Auto.

Der kleine Junge fing an zu flennen; das kleine Mädchen kreischte aus irgendeinem Grund immer wieder dreißig, als hielte es das für ein Zauberwort, das J. K. Rowling in ihren Harry-Potter-Büchern irgendwie ausgelassen hatte. Die hintere Tür des Streifenwagens wurde geöffnet. Die Kinder stiegen aus. Beide heulten Rotz und Wasser, was Pete ihnen nicht verübeln konnte. Hätte ihn das eben Gesehene nicht so verblüfft, hätte er vermutlich auch geheult. Ihm kam ein verrückter Gedanke: Ein oder zwei weitere Schlucke Wodka könnten diese Situation verbessern. Sie würden ihm helfen, weniger Angst zu haben, und wenn er weniger Angst hätte, würde er vielleicht darauf kommen, was zum Teufel er tun sollte.

Unterdessen wichen die Kinder wieder zurück. Pete hatte den Eindruck, sie könnten jeden Augenblick in Panik geraten und wild die Flucht ergreifen. Das durfte er nicht zulassen; sie würden geradewegs auf die Straße laufen und vom Verkehr auf dem Turnpike plattgemacht werden.»He!«, rief er.»He, ihr zwei!« Als sie sich umdrehten, um ihn anzusehen– große, hervorquellende Augen in blassen Gesichtern–, winkte er und begann auf sie zuzugehen. Dabei zeigte die Sonne sich wieder, diesmal mit voller Kraft. Der kleine Junge wollte sich in Bewegung setzen. Das Mädchen riss ihn zurück. Anfangs glaubte Pete, sie hätte Angst vor ihm, aber dann wurde ihm klar, dass es das Auto war, vor dem sie sich fürchtete.

Er beschrieb mit der Hand einen Bogen.»Geht drum herum! Aber kommt hierher, weg von der Straße!« Sie schlüpften durch die Poller auf der linken Seite der Einfahrt, gingen in einem möglichst weiten Bogen um den Kombi herum und kamen dann querüber den Parkplatz. Als sie Pete erreichten, ließ die Kleine ihren Bruder los, setzte sich und schlug die Hände vors Gesicht. Sie hatte Zöpfe, die ihr vermutlich ihre Mutter geflochten hatte. Sie anzusehen und zu wissen, dass die Mutter der Kleinen sie nie wieder flechten würde, bewirkte, dass Pete sich entsetzlich fühlte. Der kleine Junge sah ernst zu ihm auf.»Es hat Mami und Daddy gefressen.

Es hat die Pferdelady gefressen und Trooper Jimmy auch. Es frisst wahrscheinlich alle. Es frisst die ganze Welt.« Wäre Pete Simmons zwanzig gewesen, hätte er vielleicht einen Haufenüberflüssiger Fragen gestellt. Weil er nur halb so alt und imstande war zu akzeptieren, was er eben gesehen hatte, fragte er etwas Einfacheres und Zweckdienlicheres.»He, kleines Mädchen. Kommt noch mehr Polizei? Hast du deshalb dreißig geplärrt?« Sie ließ die Hände sinken und sah zu ihm auf. Ihre Augen waren rot und geschwollen.»Ja, aber Blakie hat recht. Es frisst sie alle. Ich hab Trooper Jimmy gewarnt, aber er hat mir nicht geglaubt.« Pete glaubte ihr, weil er es gesehen hatte. Aber sie hatte recht. Die Polizei würde das nicht tun. Irgendwann höchstwahrscheinlich schon, aber nicht bevor das Monster noch ein paar Polizisten gefressen hatte.