Kapitel 2
Mai 1999, Helvern am Niederrhein
„Wo bleibt Corinna eigentlich? So lange war sie doch noch nie mit Balu raus.“ Andreas Jansen nahm die Fernbedienung vom Sofatisch und schaltete ins erste Programm.
„Ich habe keine Ahnung, außerdem ist morgen doch Schule, sie muss ja irgendwann auch ins Bett“, ergänzte seine Frau Birgit.
„Wenn sie nach der Tagesschau immer noch nicht zurück ist, rufen wir ihre Eltern an, vielleicht hat sie ja mit dem Hund einen Abstecher zu ihnen gemacht.“
Wenige Minuten später hörte das Ehepaar Geräusche an der Haustür, erst ein Winseln, dann ein Jaulen, das schließlich in Kratzen überging.
„Oh, sie sind wieder da, endlich. Heute hat sie sich die fünf Mark fürs Gassigehen mehr als verdient.“ Andreas sprang vom Sofa auf und eilte zur Haustür. Er öffnete und blickte in zwei treue Hundeaugen, die einem hechelnden und mit dem Schwanz wedelnden Labrador gehörten.
„Hallo, Balu, was ist los? Und wo hast du Corinna gelassen?“ Andreas streichelte den Hund und suchte dabei mit seinem Blick den Vorgarten ab. Von Corinna gab es keine Spur zu sehen. Balu zwängte sich an Andreas vorbei in den Flur, als er sein Frauchen aus dem Wohnzimmer kommen sah. Bellend sprang er sie an.
„Was ist denn los mit dir, kleiner Stinker?“ Birgit kraulte Balu beruhigend den Hals. „Ist Corinna gar nicht da?“, wandte sie sich an ihren Mann.
„Bis jetzt habe ich sie nicht gesehen.“ Andreas ging bis vorn zur Straße und schaute sich dort um. Ratlos kam er ein paar Augenblicke später zurück ins Haus.
„Vielleicht ist sie wirklich schon wieder zu Hause“, vermutete Birgit.
„Sie würde doch niemals den Hund allein über die Straße nach Hause rennen lassen. Außerdem hat er noch die Leine um den Hals.“
„Na ja, wenn ich mir vorstelle, wie ich in dem Alter war … Da begegnet man zufällig dem Jungen, den man toll findet, und schwups, ist der Hund vergessen.“
Andreas schaute seine Frau an. „Die Kleine ist elf Jahre alt. Nein, wir rufen bei ihren Eltern an. Dann wissen wir wenigstens, ob sie wieder zu Hause ist.“
Keine halbe Stunde später befand sich der gesamte Ort in Aufruhr. Corinna war auch nicht zu Hause angekommen und ihre Eltern, Anne und Stefan, hatten die Nachbarn um Hilfe bei der Suche nach ihrer Tochter gebeten. In einem 2000-Einwohner-Dorf, in dem überdies jeder jeden kennt, hatte sich die Nachricht vom Verschwinden Corinnas schnell herumgesprochen. Am späten Abend war ganz Helvern auf den Beinen, um das Mädchen zu finden. Ein mit unzähligen Taschenlampen bestückter Pulk hatte sich in der hereinbrechenden Dämmerung über das ganze Gemeindegebiet und die angrenzenden Außenbereiche verteilt. Wer einen Hund besaß, hatte ihn als Spürhund mitgebracht. Einige der Jäger im Ort nahmen sogar, übertriebenermaßen, mit ihren Flinten an der Suchaktion teil. Das starke Gemeinschaftsgefühl, das Menschen in Gruppen mit überschaubarer Größe in der Not noch enger zusammenschweißt, war an jeder Ecke Helverns zu spüren. Es schien fast so, als wäre eine Großfamilie aufgebrochen, um ihre verloren gegangene Tochter wiederzufinden.
Für Corinnas Eltern war das nur ein schwacher Trost.
„Hatten Sie heute oder in den vergangenen Tagen Streit mit Ihrer Tochter? Vielleicht ist sie ja weggelaufen.“ Olaf Teubner, der lokale Polizeibeamte in Helvern, versuchte so einfühlsam wie möglich mit den Kammlers umzugehen. Die beiden hockten im Wohnzimmer und wirkten völlig aufgelöst im Angesicht ihrer über ihren Köpfen zusammenbrechenden Welt.
„Nein, es war alles in Ordnung. Außerdem würde Corinna niemals ausbüxen. Da ist sie einfach nicht der Typ für. Sie bekommt ja schon Heimweh bei einer zweitägigen Klassenfahrt“, schluchzte Anne.
„Ich habe ein ganz schlechtes Gefühl, da muss etwas Schlimmes passiert sein. Wollen Sie nicht lieber Verstärkung rufen und eine Suchaktion mit noch mehr Polizisten starten?“, fragte Stefan.
„Ich habe bereits weitere Polizeikräfte angefordert. Die Kollegen von der Kriminalpolizei sind schon informiert und unterwegs. Eine Hundertschaft rückt sogar aus Düsseldorf an. Machen Sie sich keine Gedanken, ich bin überzeugt, dass Corinna spätestens morgen früh wieder mit Ihnen frühstücken wird. Wir sind hier immerhin noch in Helvern und nicht in der Großstadt, hier kommen keine Kinder zu Schaden. Hat sie eine beste Freundin?“
„Ja, Verena. Verena Eilers“, antwortete Anne.
„Haben Sie sie schon angerufen?“
„Selbstverständlich. Die beiden waren heute Nachmittag zwar unterwegs, sind dann aber irgendwann getrennte Wege gegangen.“
„Verstehe“, murmelte Teubner. Als Dorfpolizist