Prolog
Der Ausblick vom Kirchturm auf einen kleinen, magischen Ort irgendwo in der Nähe der Nordsee ist so ziemlich der schönste, den ich kenne. Dieser Turm ist allerdings nicht für jeden zugänglich. Auf seine Plattform dürfen eigentlich nur meine beste Freundin, Pastorin Sinje Meyer, der Mann, der das Glockenspiel wartet – und freche Möwen. Doch heute brauche ich dringend einen Perspektivwechsel und Ruhe zum Nachdenken, deshalb bin ich ausnahmsweise zu Gast auf diesem tollen Logenplatz. »So, ich lass dich jetzt allein«, sagt Sinje, nachdem wir beide zahllose Treppenstufen erklommen und eine ganze Weile Seite an Seite in den blitzblauen Himmel geschaut haben. Mit den Worten »Komm einfach wieder runter, wenn du so weit bist, und schließ dann hinter dir ab, ja?«, reicht sie mir den Schlüssel, drückt mich und sagt: »Alles wird wieder gut, du musst nur fest daran glauben. Und egal, was auch passiert, du bist nicht allein. Aber das weißt du ja.«
Kaum ist Sinje gegangen, verliere ich mich im Ausblick auf einen Ort, an dem sich immer wieder Wunder ereignen – sofern man offen für sie ist und auch selbst etwas dafür tut, dass solche Wunder geschehen können. Schaut man von der umlaufenden Galerie auf den Platz inmitten unseres Städtchens hinab, den wir den kleinen Marktplatz am Meer nennen, wird einem warm vor Glück und Freude. Er ist kugelrund wie die Sonne und das Herzstück von Lütteby, einer winzigen Kleinstadt mit3365 Einwohnern. Hier begrüßen wir einander freundlich, tauschen Neuigkeiten oder Geschenke aus und schimpfen auch mal wie ein Rohrspatz, wenn es etwas zu schimpfen gibt.
Der Marktplatz wird umsäumt von hübschen, teils windschiefen Giebelhäuschen, einige von ihnen hellgelb getüncht, andere blassrosa, weiß oder hellblau. Im Winter, wenn der Schnee auf den Dächern liegt wie Schlagsahne auf der Friesentorte, ähnelt dieser Anblick einem Adventskalender. Im Sommer schützen bunte Markisen und Schirme die Auslagen der Lädchen, des französischen Cafés und des Italieners vor der prallen Sonne. Verliebte treffen sich zu einem Rendezvous auf der Bank. Menschen, die sich spinnefeind sind und einander nicht begegnen wollen, verstecken sich hinter der Tageszeitung oder einem aufgespannten Regenschirm. Wie kann ichihm nach all dem, was geschehen ist, überhaupt noch begegnen?, frage ich mich, während ich grüblerisch in den tiefblauen Himmel schaue.
Wie soll ich mich jemandem gegenüber verhalten, der alles verraten hat, was mir lieb und teuer ist? Der mir so wehgetan hat, dass ich kaum noch atmen kann. Doch bevor ich eine Entscheidung treffe, die gut überlegt sein will und weitreichende Konsequenzen hat, lasse ich die vergangenen Wochen Revue passieren, wie einen Film, von dem ich nicht weiß, ob er ein Happy End haben wird, auch wenn ich es mir so sehr wünsche …
***
»Soll ich deinen armen kranken Chef mit einem meiner Wundertees heilen?« Die Augen meiner Großmutter Henrikje funkeln abenteuerlustig, als wir nach Geschäftsschluss gemeinsam alles ins Innere ihres Lädchens am Marktplatz räumen, was auf dem Kopfsteinpflaster steht: den Postkartenaufsteller, ein Regal voller Plüschtiere, den Ständer mit Keramikbechern sowie einen geflochtenen Korb, in dem Regenschirme, Windräder mit Flügeln aus buntem Sperrholz und Fackeln stecken.
»Nette Idee«, sage ich schmunzelnd. »Aber lass mal lieber erst die Ärzte ihren Job machen und Thorstens gebrochenes Bein behandeln. Danach kannst du den Genesungsprozess immer noch mit Räucherritualen und Aromasalben unterstützen.«
»Schade, ich hätte so gern mal wieder ein bisschen mit meinem Kräuterwissen geglänzt und mit weißer Magie experimentiert«, erwidert Henrikje enttäuscht. »Aber was soll’s, vielleicht versuche ich stattdessen lieber, Thorstens Krankheitsvertretung in der Touristeninformation wegzuzaubern. Ich bin nämlich der Ansicht, du könntest die Zeit, in der dein Chef ausfällt, auch ohne zusätzliche Hilfe bewältigen, so gut, wie du deinen Job machst, Lina Lieblingsenkelin Hansen.«
»Danke für das Kompliment, Henrikje Lieblingsoma Hansen«, erwidere ich gerührt. »Darf ich dich daran erinnern, dass du nur die eine Enkelin hast?! So, jetzt aber Schluss mit dem Jobthema. Lass uns lieber mit den anderen was Nettes trinken und ein bisschen über den heutigen Tag plaudern. Habe ich dir eigentlich schon mal gesagt, wie sehr ich es liebe, wenn wir uns alle treffen?«
»Nur ungefähr zweitausendeinhundertneunzig Mal, seit du wieder aus Hamburg zurück bist«, entgegnet Henrikje augenzwinkernd. »Also beinahe täglich seit sechs Jahren.«
»Wie gut, dass du so super rechnen kannst«, erwidere ich schmunzelnd und erspähe durch die Fensterscheibe die ersten Ladenbesitzer, die sich an einem der beiden hohen Bistrotische versammeln. »Eis oder Kaffee?«, fragt Amelie Bernard. Die Französin arbeitet im Café zwei Häuser neben dem Lädchen und sorgt bei den Treffen am Markt üblicherweise für unser leibliches Wohl. »Oder hättest du lieber selbst gemachte Limonade?« Ich schüttle den Kopf und bitte um Schokoeis, denn heute brauche ich es süß und cremig. »Freust du dich auf deinen neuen Chef?«, fragt der soeben eingetroffene Ahmet Coskun aus Ankara, Besitzer des Lotto-Kiosks. Dann biegt noch jemand um die Ecke, sichtlich abgehetzt und atemlos: »Wie ich hörte, bekommst du einen neuen Vorgesetzten? Was ist denn mit Thorsten? Geht er etwa endlich in Rente?«, fragt Sinje schwer atmend. »Und wieso erfahre ich das nicht direkt von dir, sondern nur, weil die Möwen es von den Dächern kreischen? Sorry übrigens, dass ich so schnaufe, aber ich muss unbedingt wieder trainieren, damit ich ins Brautkleid passe. Was für eine elende Schinderei.« Für gewöhnlich ist Sinje – neben Henrikje – eine der Ersten, der ich Neuigkeiten anvertraue, doch heute war in der Touristeninformation ungewöhnlich viel zu tun.
»Ich hatte leider noch keine Zeit, mich bei dir zu melden«, erwidere ich. »Thorsten ist für eine Weile krankgeschrieben, aber keine Sorge, es ist zum Glück n